La Valse – Poème choréographique pour orchestre (1920)

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t1 Konzertführer
Maurice Ravel
La Valse – Poème choréographique pour orchestre (1920)

Was Gustav Mahler im nächtlichen Scherzo seiner siebten Symphonie, einem Walzer, zehn Jahre vor Kriegsausbruch als düstere Vorahnung des kommenden Unheils niederlegte, ist in Ravels La Valse von 1920 als bereits Geschehenes, als grauenvolle, eben erlebte Wirklichkeit eingegangen: der totale blutige Zusammenbruch des alten Europa. Den Plan, eine symphonische Dichtung zu Ehren Wiens zu komponieren, hatte Ravel zwar schon vierzehn Jahre zuvor, im Jahre 1906, gefasst, aber erst nach dem Untergang der Wiener Monarchie, der zugleich das Ende des Wiener Walzers besiegelte, konnte Ravel, der unverbesserliche Perfektionist, nunmehr aus der kritischen Distanz eines Überlebenden ein endgültiges Werk über den Wiener Walzer schreiben und sich ein abschließendes Urteil erlauben über den Tanz des 19. Jahrhunderts. „Ich habe dieses Werk als eine Art Apotheose auf den Wiener Walzer aufgefasst, mit dem sich in meinem Geiste die Vorstellung eines phantastischen und unentrinnbaren Wirbelns verbindet“, schreibt Ravel später in seiner Autobiographischen Skizze und verweist auf den tragischen Aspekt der Komposition, die dem Prinzip des Walzers nachspürt. Strukturell ist es lediglich ein mächtiges, durch eine Reprise unterbrochenes Crescendo, eine nach einem simplen Steigerungsprinzip angelegte Folge von Walzermelodien, die – so Roland-Manuel – „in ihrer Mannigfaltigkeit alle Nuancen des Wiener Walzers widerspiegelt: seine Schmeicheleien und seine Härten, seinen sinnlichen Elan, ebenso seine Noblesse und seine Prachtentfaltung“. Dennoch: Was hier zunächst, einem nächtlichen Schauspiel gleichend, hinter Nebelschwaden dem bebenden Erdboden zu entweichen scheint und sich nach und nach in manischer Drehbewegung zu höchster Raserei und Ekstase steigert, um schließlich in sich zusammenzubrechen, das bedeutet auch musikalisch mehr als nur die originelle Bestätigung der Regel: Hier sprengt einer mit voller Absicht den musikalischen Rahmen der Gattung.

Im Vorwort zur Partitur hat Ravel selbst die Szenerie seines Walzers beschrieben: „Herumwirbelnde Wolkenschwärme geben an den lichten Stellen den Blick frei auf walzertanzende Paare. Allmählich zerstreuen sich die Wolken: Man gewahrt bei A [Beginn des Hauptthemas; A.C.] einen riesigen, von einer drehenden Menge bevölkerten Saal. Die Szene erhellt sich zunehmend. Beim Fortissimo bei B erstrahlen die Kronleuchter. Ein kaiserlicher Hof, um 1855.“ Und man hat wirklich das Gefühl, als sei hier der Hofstaat Franz Josephs von den Toten auferstanden, um noch einmal, Gespenstern gleich, einen Walzer über den Leichen des Ersten Weltkriegs zu tanzen. Bald werden auch wir von dem narkotisierenden Sog des ewigen Kreisens mitgerissen, von der morbiden Süße dieses Walzers, in dem Lebenslust und Todestrieb sich untrennbar durchdringen. Doch dann, nach dem ersten Durchlauf des todestrunkenen Melodienreigens, kann der morsche Unterbau dem zunehmenden Druck der immer mehr außer sich geratenden Masse nicht mehr standhalten: Die mit Kostbarkeiten sinnlos überladenen Fassaden brechen dröhnend in sich zusammen und begraben die gespenstische Gesellschaft für immer unter sich. Ähnlich muss es beim Untergang der Titanic gewesen sein. Während im Maschinenraum bereits das Feuer wütete und gleichzeitig der Eisberg sich in den Bauch des Luxusdampfers fraß, wurde auf den oberen Etagen weitergetanzt, bis die Wassermassen die Wände einbrachen und die Tanzenden in ihrem tödlichen Strudel in die Tiefe rissen.

La Valse ist nicht nur Ravels bittersüße Huldigung an die erotischen und erotisierenden Kräfte des Wiener Walzers, es ist auch seine ironisch-schmeichelnde Abrechnung mit dem 19. Jahrhundert und ist in erster Linie gegen die bürgerliche Oberschicht gerichtet, aus der Ravel selber kam und die nicht nur in Wien herrschte, sondern in ganz Europa im Bündnis mit der untergehenden Aristokratie noch ein ganzes Jahrhundert lang die Restauration vorrevolutionärer Verhältnisse recht erfolgreich betrieb und sich dazu – auch des Walzers bediente. Adorno beklagte freilich schon 1930, dass „jene Gesellschaft“ Ravels Botschaft offenbar nicht verstanden habe und konstatierte, „dass sie nämlich gar nicht so wissend existiert, wie sie bei Ravel vorkommt, oder dass ihr bereits nicht mehr die ästhetische Kraft innewohnt, das Porträt zu erkennen, das Ravels Musik schmeichlerisch genug ihr vorhält“.
Attila Csampai

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.