Concerto pour piano et orchestre (1929-1931)

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t1 Konzertführer
Maurice Ravel
Concerto pour piano et orchestre (1929-1931)

Auf seiner Amerika-Tournee lernte Ravel den frühen Jazz und die Musik Gershwins kennen. Als er sein zweites Klavierkonzert in G-dur schrieb, erinnerte er sich an die gebrochene Heiterkeit der ‚blue notes‘, an den rhythmischen Schmiss und an die unbotmäßige Artikulation, die ihm der Jazz zugetragen hatte. Aber das G-dur-Konzert enthält noch weitere Elemente, etwa aus der baskischen oder der spanischen Musik. Ist ein größerer Gegensatz denkbar, als der zwischen dem pompösen Konzert für die linke Hand und dem hellen Konzert in der normalen Besetzung? Kurz vor der Vollendung des Konzerts in G-dur schrieb Ravel, es sei ein Konzert „im echten Sinne des Wortes: ich meine damit, dass es im Geiste der Konzerte von Mozart und Saint-Saëns geschrieben ist“. Das ist eine charakteristische, paradoxe Äußerung Ravels, denn wer würde es im Ernst wagen, die Klavierkonzerte Mozarts und eines Saint-Saëns in einem Atemzug zu nennen? Ravel fügte noch hinzu: „Eine solche Musik sollte meiner Meinung nach aufgelockert und brillant sein und nicht auf Tiefe und dramatische Effekte abzielen.“ Auch das ist eine Untertreibung, denn niemals hätte Ravel eine oberflächliche Musik ohne doppelten Boden komponiert. Er betrieb eine Ästhetik des Verzichts, trug die Maske eines Spielers, der es faustdick hinter den Ohren hat. Er nahm sich also bei der Komposition des zweihändigen Konzerts die Form und Gattung des klassischen Klavierkonzerts vor, aber was wurde daraus?

Nicht nur der differenzierte Orchestersatz mit seiner heterogenen, solistisch aufgebrochenen Instrumentation verstößt gegen den gewohnten Klang und ist alles andere als ‚klassisch‘, sondern auch das Übergreifen des Konzertierens auf die einzelnen Instrumente des Orchesters, die somit dem Solisten den Rang streitig machen. Das führt so weit, dass erst die Harfe, gewissermaßen als zartere Ausgabe des Klaviers, eine Solokadenz bekommt, bevor der eigentliche Solist brillieren darf. (Bei Mozart sind es nur die Holzbläser, die als eigene Gruppe konzertant hervortreten.) Und der erste Satz beginnt als Bläserkonzert, das eher wie Zirkusmusik klingt. Angetrieben wird es mit einem Peitschenknall, wie man einen Kreisel in Bewegung bringt. Und Bewegung ist eines der Grundelemente der Ecksätze, ganz im schärfsten Kontrast zum langsamen Satz, der in jeder Hinsicht aus der Reihe fällt. Denn er hat nichts mit der rhythmischen Verve und dem Jazzstil der Außensätze zu tun. Im ersten Satz begleitet der Solist zunächst das Orchester; das baskische Hauptthema, eckig und aufreizend primitiv, trägt die schneidende Piccoloflöte vor, später eine schmetternde Solotrompete. Erst mit dem spanischen zweiten Thema und dem im Jazzidiom gehaltenen dritten kommt der Solist zu Wort.
Es geht hier um den Gegensatz von Traum und Realität, von Innen- und Außenleben: Draußen herrscht die Hektik der zwanziger Jahre, innen schlägt das zarte Herz Ravels, der sich dem Getriebe mit der Unschuld des Magiers nähert und durchschaut hat, dass in dieser Welt keine Echtheit mehr möglich ist. Er gibt die Kopie als das eigentlich ‚Echte‘ aus. Er weiß, dass die Erfahrung der Realität nur noch vermittelt möglich ist: als entfremdete. Vielleicht liebte er deshalb den berühmten Stummfilm Das Kabinett des Dr. Caligari, dessen stilisierte Kinematographie und Verzicht auf rechte Winkel und überhaupt auf jeglichen Naturalismus. Ravels Plagiate sind aber stets traurig oder ironisch. Von Inspiration will er nichts wissen und behauptet, das sei Arbeit am Schreibtisch, nichts weiter. Umso bedeutsamer sind die Stellen, an denen, für einen Moment wenigstens, das Geheimnis des Spielers gelüftet wird, so etwa in der ‚Quasi cadenza‘ des ersten Satzes, einer seltsamen Verschiebung von Realität (Klavier) und Traum (Soloharfe): Die Zeit bleibt stehen (liegender Klang der tiefen Streicher), die Musik horcht sich selber nach und ein Traumklavier erklingt, denn was sind Flageolett-Töne einer Harfe anderes? Darauf folgt ein weiterer Blick hinter die Kulissen: Wir hören eine zweite Vorkadenz, diesmal von den Holzbläsern vorgetragen. Dann erst tritt der eigentliche Magier auf mit der Hauptkadenz, die sich in einem rhythmischen Stampfen in der Tiefe verliert und damit den Übergang in die harte Realität markiert.

Was Ravel im ersten Satz für einen kurzen Moment zuließ, die Transzendierung des Spiels mit den Masken, das bestimmt den gesamten zweiten Satz, der allerdings die Ästhetik der Uneigentlichkeit und des Verzichts auf die Spitze treibt. Er setzt den denkbar schärfsten Kontrast zu den Ecksätzen und verbreitet eine gläserne, fremdartige Innigkeit, die an Erik Saties Gymnopédies erinnert oder an gewisse Wendungen der diskreten Melancholie von Ravels Lehrer Gabriel Fauré. Ravels Künstlichkeit äußert sich in E-dur und in den ersten dreiunddreißig Takten ganz monologisch. Die so homogen erscheinende Melodie, die der einsame Solist da vorträgt, klingt nicht nur gebrochen, sondern ist es auch wirklich, denn die Begleitung der linken Hand widerspricht metrisch der lang ausgesponnenen Melodie, die ihrerseits, wie sich Ravel einmal ausdrückte, zusammengestückelt ist aus lauter Einzeltakten. Das Modell dazu ist der langsame Satz aus Mozarts Klarinettenquintett. Der künstliche Fluss der Melodie, im Dreivierteltakt phrasiert, wird durchkreuzt von der Walzerbegleitung der linken Hand im Dreiachteltakt, sodass sich subtile Schwerpunktverschiebungen zwischen Melodie und ‚Begleitung‘ ergeben. Gefällig ist das nicht. Später lässt dann der Solist, ebenfalls in der Manier Mozarts, den Bläsern den Vortritt und zieht sich mit Figurationen zurück, die direkt aus Mozarts Klavierkonzert KV 503 stammen. Der Satz endet mit der Walzerbegleitung.
An Stelle des Peitschenknalls, der den ersten Satz antrieb, beginnt das Finale mit fünf brutalen Schlägen in metrischer Verzerrung, die ebenso an Strawinsky erinnern wie das schiefe Hauptthema, das überdies wie eine Grimasse wirkt und das Jazzprinzip der ‚dirty tones‘ auf den Gesamtgestus überträgt. Stuckenschmidt spricht treffend vom „Reflex des turbulenten Daseinsstils“, ja man könnte ergänzen, so reagierte Ravel eben darauf, dass er die Turbulenz verfremdete. Das perkussive Element des Klavierklangs, das Hämmern, wird zum Ferment des Satzes; alles stürzt den fünf Schlägen des Schlusses entgegen, die das einlösen, was die ersten fünf bereits angekündigt haben: dass alles nur Schein und Spiel war.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.