Wiener Schule

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t1 Konzertführer
Matthias Georg Monn, Joseph Starzer, Johann Baptiste Vaňhal, Anton Zimmermann, Johann Georg Albrechtsberger
Wiener Schule

Georg Christoph Wagenseil (1715 – 1777)
Matthias Georg Monn (1717 – 1750)
Josef Starzer (1726 – 1787)
Karl Ditters von Dittersdorf (1739 – 1799)
Johann Baptist Vanhal (1739 – 1813)
Anton Zimmermann (1741 – 1781)
Johann Georg Albrechtsberger (1736 – 1809)
Leopold Anton Kozeluch (1747 – 1818)
Franz Anton Hoffmeister (1754 – 1812)
Antonio Salieri (1750 – 1825)
Leopold Mozart (1719 – 1787)
Michael Haydn (1737 – 1806)

Der Begriff ist wesentlich älter als seine heute meist gebräuchliche Bedeutung, die entweder die Wiener Klassik oder aber den Kreis Schönbergs und seiner Schüler meint. Geprägt wurde er bereits 1784 durch Christian Friedrich Daniel Schubart in dessen während der Kerkerhaft auf dem Hohenasperg geschriebenen Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst (erschienen 1806); gemeint war damit eine Gruppe von Komponisten, die um 1740 bis 1780 in Wien und den benachbarten kleineren Residenzen wirkten und in der Entwicklung der Instrumentalmusik wichtige Voraussetzungen der Wiener Klassik schufen oder vorbereiteten.
Die beginnenden 1740er Jahre brachten für Wien einen Umbruch in mehrfacher Hinsicht: Mit dem Tod Karls VI. und dem Regierungsantritt Maria Theresias begann eine Zeit der Gefährdung des Reiches durch äußere Feinde, der Staat musste andere Interessen haben als glanzvolle musikalische Repräsentation. Ein Teil des Musiklebens wurde ‚privatisiert‘, spielte sich – als reine Privatinitiative – in den Palais und Schlössern adeliger Mäzene ab. Da diese zwar Stadtresidenzen in Wien, zugleich aber meist Sommerschlösser auf dem Lande unterhielten, bedeutete eine solche Entwicklung zugleich eine Art Dezentralisierung der Musikkultur. Die hochgestellten ‚Kenner und Liebhaber‘ verlangten nach entsprechend andersartiger Musik, als sie früher in der Hauptstadt gepflegt worden war.

Die beiden bedeutendsten Repräsentanten des Wiener Barock, Antonio Caldara und Johann Joseph Fux, starben 1736 bzw. 1741, gerade zu jener Zeit, als sich in Literatur, Architektur und bildender Kunst die Wandlung von dem als schwer und schwülstig empfundenen Barock zum eleganten, grazilen, intimeren Rokoko vollzog. Analog dazu begann man in der Musik Polyphonie und Generalbass (nach Johann Sebastian Bach das Fundament aller Musik) als spekulativ, erklügelt, den Ausdruck der Musik einschränkend und die Entfaltung melodischen Flusses hemmend anzusehen; die Charakteristika des älteren Stils gerieten als ‚gelehrt‘ in Verruf, wurden in der Folge nur noch im ‚seriösen‘ Kirchenstil gepflegt. Im neuen ‚galanten‘ Stil orientierten sich die Komponisten zum Beispiel an den melodiösen, leichten Opernsymphonien neapolitanischer Prägung, wie man sie aus der Hofoper kannte. Zugleich mit solchen Wandlungstendenzen feudalaristokratischer Strukturen kommt, neben dem Gegensatz von ‚galant‘ und ‚gelehrt‘, das neue Schlagwort ‚Empfindsamkeit‘ auf, mit dem sich erstmals das Bürgertum künstlerisch zu Wort meldet. Musik wird nicht erst von Goethes Werther als Sprache der Empfindungen aufgefasst.

Die ‚Wiener Schule‘ lässt deutlich zwei auch stilistisch unterschiedene Generationen erkennen, deren erste etwa gleichaltrig mit Christoph Willibald Gluck, Carl Philipp Emanuel Bach und Leopold Mozart ist; ihre bedeutendsten Repräsentanten sind Georg Christoph Wagenseil (1715 – 1777) und Matthias Georg Monn (1717 – 1750). Beide waren noch in den konservativen Traditionen aufgewachsen und ausgebildet worden (Wagenseil als Schüler von Fux, der ihn 1739 als Hofkomponisten empfahl), Monn hinterließ – als Organist der Karlskirche – Sakralmusik, die den Konventionen entsprach. Desto überraschender müssen die Symphonien beider Komponisten erscheinen, die auf den jungen, damals in Wien lebenden Joseph Haydn von bedeutendem Einfluss waren. Bereits die noch dreisätzigen, formal an die Opern-Sinfonia angelehnten Werke werden in den Kopfsätzen meist zwei gegensätzlich typisierte Themen exponiert, die anschließend einer Verarbeitung unterzogen werden; damit ist der Grundriss der klassischen Sonatenform entworfen, wenn auch von Durchführungsarbeit im späteren Sinne selten die Rede sein kann. Die Übernahme von Elementen der barocken Suite in die neue symphonische Gattung führt bereits vor 1750 bei Monn zur Einführung des Menuetts und damit erstmals zum Ausbau zum vierteiligen klassischen Satzzyklus. Die langsamen Sätze sind der Ort, an dem der Empfindung am meisten Raum gegeben wird, die einfache Liedform lässt die Melodik frei zur Entfaltung kommen. Man darf sich den musikalischen Satz dieser Kompositionen keineswegs primitiv – im Sinne einer simplen Trennung von ‚Melodie‘ und ‚Begleitung‘ – vorstellen; als Beispiel sei Monns Sinfonia in H-dur (!) angeführt, die neben der ohnehin schon als gewagtes Experiment anzusprechenden Tonart reiche imitatorische Arbeit aufweist, welche alle Stimmen des musikalischen Satzes erfasst, ohne dadurch die ‚neuen‘ Errungenschaften der Symphonie in ihrer Wirkung zu beeinträchtigen. Wirkt hier der Kirchenstil noch nach, so ist für Wagenseil die betont volkstümliche Thematik charakteristisch, der achttaktige Lied- bzw. Tanzperiodik zugrunde liegt. Dem Streben nach ‚Ausdruck der Empfindung‘ entspricht ein differenzierter Umgang mit der Dynamik, unter anderem definitives Vorschreiben von Crescendi und Decrescendi. Es darf freilich nicht außer Acht gelassen werden, dass neben der symphonischen Gattung in jener Zeit noch sehr viel höfische Gebrauchsmusik (Tafel- und Freiluftmusiken) entsteht, die den galanten Stil mit dem Reihungsprinzip der alten Suite (aber in weniger strenger Form) verbindet. Diese im Ausdruck eher leichtgewichtigen Serenaden, Divertimenti, Notturnos, Parthien etc. beeinflussen auch die neue Symphonie, und scharfe Gattungsgrenzen sind nicht immer zu ziehen. Wagenseil und Monn haben neben der Sinfonia auch der Gattung des Solokonzerts neue Impulse gegeben; noch Arnold Schönberg fand das Violoncellokonzert g-moll von Monn interessant und wertvoll genug für eine Neuausgabe (erschienen 1914) und bearbeitete eines von dessen Cembalokonzerten zu einem Konzert für Violoncello und Orchester (1932).

Zwischen beiden Generationen steht der Wiener Josef Starzer (1726 – 1787), dessen schöpferische Bedeutung hauptsächlich auf seinen Balletten ruht. Er hat wenig Instrumentalmusik hinterlassen, die nicht an Bühnenvorgänge gebunden ist. Unter diesem Wenigen findet sich ein viersätziges als Divertimento in C-dur bezeichnetes Werk, das die Durchlässigkeit der Gattungsgrenzen deutlich macht: Einem symphonisch gearbeiteten Kopfsatz folgen – in vertauschter Reihenfolge – ein Menuett und erst an dritter Stelle der langsame Satz Larghetto. Was hier wie eine Vorwegnahme der Romantik erscheint, ist ein Einfluss der Divertimento- und Serenadepraxis, was dem hohen Niveau der Originalität und der Lust an Experiment keinerlei Abbruch tut: Gerade dieses Werk enthält Tendenzen, die bereits auf die zweite Generation der ‚Wiener Schule‘ verweisen – die Betonung des Affektischen durch raffinierte Dynamik und oft überraschende Modulationen.

Ist das Ende des Wiener Barock durch den Tod von Caldara und Fux recht genau bestimmbar, so endet die erste Entwicklungsphase der ‚Wiener Schule‘ mit dem Tod von Monn und der schweren Krankheit Wagenseils etwa 1765. Um diese Zeit kommen neue Tendenzen auf, die mit dem Begriff des ‚Sturm und Drang‘ bezeichnet werden. Dies ist allerdings mehr als eine bloße Kunstrichtung: das Lebensgefühl einer vorrevolutionären Generation. Stellt die Empfindsamkeit eine zwar schon bürgerliche, aber ruhige, beschauliche Erscheinung dar, so ist der Sturm und Drang deren heftiges, revolutionäres Gegenstück. Das Individuum mit all seinem Fühlen und dem beginnenden Bewusstsein seiner Rechte trat mehr und mehr in den Vordergrund. Auf die Musik hatte diese geistesgeschichtliche Wende weitreichende Konsequenzen. Die Darstellung der Affekte beginnt die Hauptrolle zu spielen, jedoch nicht – wie in früheren Zeiten – etwa unter Zuhilfenahme von Stilisierung mittels rhetorischer Figuren; Molltonarten signalisieren Erregung, plötzliche Umbrüche in Dynamik, Harmonik und Rhythmik sowie gelegentliche unerwartete Generalpausen werden zu regelrechten ‚Schockwirkungen‘ eingesetzt. Die Heftigkeit, ja Schroffheit dieses Stils zielt auf die Darstellung tiefen Gefühlsausdrucks und steter Überraschung.
Sind solche stilistischen Charakteristika am deutlichsten in der Musik Carl Philipp Emanuel Bachs ausgeprägt, so sind sie um 1770 auch in der Symphonik der ‚Wiener Schule‘ zu beobachten. Karl Ditters von Dittersdorf (1739 – 1799) und sein Schüler Johann Baptist Vanhal (1739 – 1813) sind hier zu nennen. Ihre in jenen Jahren geschriebenen Symphonien in Molltonarten bedienen sich teilweise der beschriebenen neuen Sprache, lassen freilich das galante Element selten ganz außer Acht. Meist geht mit dem neuen Ausdruck eine Vergrößerung des Apparats Hand in Hand: Die von Wagenseil aus dem neapolitanischen Opernorchester übernommenen je zwei Oboen und Hörner werden nun bisweilen durch ein zweites Hörnerpaar (so in Vanhals g-moll-Symphonie) und durch zwei Trompeten und Pauken verstärkt, was das Pathos des Ausdrucks intensiviert; eine langsame Einleitung des Kopfsatzes kann die Spannung vor dem Eintritt des ersten Allegro noch steigern (so in einer D-dur-Symphonie Vanhals). Im gleichen Zeitraum schreibt Joseph Haydn seine Symphonien Nr. 39 (g), 44 (e), 45 (fis), 49 (f) und 52 (c), nur wenig später der siebzehnjährige Wolfgang Amadeus Mozart seine ‚kleine‘ g-moll-Symphonie KV 183; hier wird die enge Verflechtung der Entwicklungswege der beiden Klassiker mit den musikalischen Tendenzen ihrer Zeit deutlich und hörbar. Gleiches gilt von dem in Schlesien geborenen Anton Zimmermann (1741 – 1781), wie Haydn Leiter einer hervorragenden Hofkapelle (des Fürsterzbischofs Joseph Batthyany in Preßburg); eine dreisätzige C-dur-Symphonie aus seiner Feder galt ihrer hohen Qualität wegen lange als ein Werk Haydns. Keiner der genannten Komponisten darf als ‚Spezialist‘ angesehen werden, Experimente und Erproben des eigenen Könnens in möglichst allen musikalischen Gattungen kennzeichnen ihr Schaffen. Hierzu sind auch die zahlreichen Solokonzerte für ausgefallene Instrumente zu rechnen; so schrieben Haydn, Dittersdorf, Vanhal und Zimmermann Konzerte für Kontrabass.

Die konservativen Traditionen überlebten freilich nicht nur in der Kirchenmusik, wie das Beispiel Johann Georg Albrechtsbergers (1736 – 1809) zeigt: Er pflegte einen spezifischen Wiener Kirchensonatentypus, bestehend aus einer langsamen Einleitung und einer vierstimmigen Fuge. Diese Werke sind aber nicht mehr als reine Kirchenmusik zu verstehen, denn die Fuge ist auch in jenen Jahren noch in zahlreichen Instrumentalwerken zu finden, unter anderem aus dem Bestreben, zum Beispiel in der inzwischen weiterentwickelten Symphonie die Reste des Divertimento-Charakters aufzuheben bzw. ihnen entgegenzuwirken. Erst später hat Albrechtsberger vier große Symphonien geschrieben, doch er wäre – bei aller theoretischen Gelehrsamkeit – kein Kind seiner Zeit gewesen, hätte nicht auch er mit ungewöhnlichen Besetzungen und Klangfarben experimentiert, wie seine Konzerte für Maultrommel, Mandora (kleiner Lautentyp) und Orchester beweisen.

Der Böhme Leopold Anton Kozeluch (1747 – 1818) und der Schwabe Franz Anton Hoffmeister (1754 – 1812) hinterließen einige Dutzend Symphonien und Solokonzerte, doch sind diese flüssig geschriebenen Werke meist ohne Tiefgang und blieben Tagesproduktion. Hoffmeisters Bedeutung liegt wesentlich in seiner verlegerischen Tätigkeit. Antonio Salieri (1750 – 1825), der 1766 nach Wien kam, blieb hauptsächlich Opernkomponist; er hinterließ einige reizvolle Konzerte, so für Flöte, Oboe und Orchester und für Violine, Oboe und Violoncello mit Orchester, die originell und gut gearbeitet sind, aber entwicklungsgeschichtlich kaum bedeutend.
Zwei Komponisten, die nicht in Wien, sondern in Salzburg wirkten, müssen noch genannt werden: Leopold Mozart (1719 – 1787) und Michael Haydn (1737 – 1806). Die beschriebenen stilistischen Charakteristika der beiden unterschiedenen Generationen der ‚Wiener Schule‘ treffen auch auf sie zu, allerdings mit einigen Besonderheiten. Dazu gehört ihre Vorliebe für die Clarinlage der Blechblasinstrumente. Am Salzburger Hof erlebte die Clarinblaskunst auf der Naturtrompete um 1765 eine letzte Blütezeit, der wir ein Konzert Mozarts und zwei Konzerte Haydns verdanken. Die musikalischen und technischen Ansprüche dieser Werke sind enorm, fordern zum Teil cantables Spiel in großen Höhen. Die Hornkonzerte stehen ihnen an Schwierigkeit kaum nach. Leopold Mozarts Symphonien haben oft programmatischen Einschlag und verlangen eine Anzahl seltener Instrumente und zum Teil Geräusche (Hackbrett, Radleier, Dudelsack, Kuhglocken, Sehellengeläut, sogar Peitschenknallen und Pistolenschüsse). Michael Haydns Symphonik (über vierzig Werke!) steht an Qualität den Werken des Bruders kaum nach, gleiches gilt für die Solokonzerte. Erwähnenswert ist die Tatsache, dass die Komponisten der zweiten Generation der ‚Wiener Schule‘ nicht nur Zeitgenossen Joseph Haydns und Wolfgang Amadeus Mozarts waren, sondern teilweise beide überlebt haben. Die stilistischen Eigenarten dieser Schule haben also nicht nur vor, sondern auch neben den Großmeistern weiterexistiert und ebenfalls ihre Auswirkung auf die beginnende Romantik gehabt.

Hartmut Becker

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.