Luigi Nono

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t1 Konzertführer
Luigi Nono
Luigi Nono

Venedig, 29. Januar 1924 – Venedig, 8. Mai 1990

In der neuen Musikproduktion nach dem Zweiten Weltkrieg nahm Luigi Nono rasch eine führende Position ein und galt schon seit etwa Mitte der fünfziger Jahre als (neben Stockhausen und Boulez) bedeutendster Kopf einer radikal experimentellen Richtung innerhalb der zeitgenössischen Musik. Darmstadt und seine Ferienkurse waren das Zentrum dieser Neuen Musik, der Dirigent Hermann Scherchen wurde dort Nonos wichtigster Förderer. Bei Scherchen und Bruno Maderna hatte Nono die entscheidenden Unterweisungen und künstlerischen Anregungen erhalten, Varèse, Schönberg und Webern waren sozusagen die Vaterfiguren, denen die jungen Komponisten nicht nur die musikalische Schreibweise und Sprache verdankten (Klangemanzipation, Dodekaphonie, Serialismus), sondern auch Zugang zu einer esoterischen Lyrik, die Moral eines rigorosen Materialdenkens, die konsequent experimentelle, von Zwecken und Auftraggeber- oder Publikumsinteressen losgelöste ästhetische Haltung. Anders als bei Stockhausen und Boulez zeichnete sich bei Luigi Nono schon ziemlich früh jenes vehement humane, aus dem Erlebnis des italienischen Antifaschismus gewonnene Engagement ab, das ihn bald zum umstrittensten Komponisten seiner Generation werden ließ, zu einem Musiker der konkreten politischen Stellungnahme, auch innerhalb der italienischen KP, zum ‚politischen Komponisten‘ Luigi Nono, der zunehmend in Gegensatz geriet sowohl zur Musik seiner Komponistenkollegen und zum bürgerlichen Musikleben als auch zu den gesellschaftlichen Systemen der westlichen Länder. So suchte er Solidarität und Freundschaften in den sozialistischen Ländern Europas, in Lateinamerika. Ab den siebziger Jahren öffnete sich Nono erneut wieder mehr der westlichen Kultur, ihrer Philosophie und Dichtung, und er begann, von neuem mit ihren Institutionen zusammenzuarbeiten. Diese Wandlung fällt zusammen mit einer allmählichen Veränderung des musikalischen Denkens, der ästhetischen Ziele, der Klangverhältnisse in seiner Musik.

Charakteristisch für Luigi Nonos frühes Schaffen der fünfziger Jahre ist nicht nur das an Weberns Reihentechnik anschließende serielle Parameterdenken, das sämtliche Elemente eines musikalischen Verlaufs (Intervall, Rhythmus, Dynamik, Klangfarbe) einer strikt durchkonstruierten, vereinheitlichten Ordnung unterwirft, sondern auch der spezifische vokale Ausdruck, die aus der italienischen Musik gewonnene vokale Linienformung in Textvertonungen. Nonos Oeuvre ist sehr stark geprägt vom Klang und Ausdruck der menschlichen Stimme, es gibt nicht viele Werke rein instrumentaler Konzeption. Nonos erste große Partitur sind die Variazioni canoniche sulla serie dell’Op. 41 di Arnold Schönberg für Orchester (1950), die von einer Tonreihe aus Schönbergs Ode to Napoleon Bonaparte ausgehen und diese Reihe durch kanonische und variative Techniken kunstvoll entfalten. In den Due espressioni per orchestra (1953) sind vor allem die Klangreize, neben einer immer einheitlicher organisierten Stimmführung, verstärkt. Canti per 13 und Incontri für 24 Instrumente (beide 1955), in denen erstmals serielle Verfahren im engeren Sinn Anwendung finden, sind sozusagen die Vorstufen für das Hauptwerk der fünfziger Jahre, die für Sopran-, Alt- und Tenorsolo, gemischten Chor und Orchester geschriebene Kantate Il canto sospeso (1956 von Scherchen in Köln uraufgeführt), in der Fragmente aus Abschiedsbriefen von zum Tode verurteilten Widerstandskämpfern in neun kunstvoll gebaute Sätze gefasst sind, in eine Klanglichkeit von differenziertester, zugleich sparsamster Ausprägung, von lodernd erfüllter Expressivität, Klage, Leidenston. Il canto sospeso bleibt eine der stimmigsten, sinnhaltigsten Kompositionen nach dem Weltkrieg überhaupt. Es schließen sich an: Varianti für Solovioline, Streicher und Holzbläser und La terra e la compagna (Gesänge von Cesare Pavese für Sopran- und Tenorsolo, Chor und Instrumente), beide 1957. Das Orchesterstück Diario polacco ’58 (1959) ist seriell geschrieben und benutzt die venezianische Mehrchörigkeit zum ersten Mal in neuer Funktion. Die szenische Aktion Intolleranza (1960) ist der Endpunkt dieser Entwicklung zur immer größeren Komplexität der musikalischen Mittel, zur stärkeren Konkretion der übermittelten Botschaften, so wie die szenische Aktion Al gran sole carico d’amore (1972 bis 1974) ebenfalls eine Art Zusammenfassung bedeutete: einer kompositorischen Periode, in der Nono die Tonbandmusik, vorgefundene konkrete Geräusche, montierte Stimmen und Schreie, durchaus auch mit aktionistischer Zielrichtung, favorisiert hatte. Es waren die Jahre der weltweiten Studentenunruhen. Das große Orchester hat Nono nur zweimal in diesen sechziger Jahren eingesetzt: in Ein Gespenst geht um in der Welt für Solosopran, gemischten Chor und Orchester (1971) und in der den chilenischen Faschismus anklagenden Kantate Como una ola di fuerza y luz für Sopran, Klavier, Orchester und Tonband (1971/72). Beide Werke bereiten gewissermaßen diese zweite szenische Aktion Al gran sole vor, sie sind eindeutig politisch akzentuiert, benutzen massiv getürmte Klangmittel ebenso wie die lyrische Emphase – und wie stets bei Nono hat auch hier Musik niemals etwas mit Programmmusik im älteren Sinn zu tun, es sind Textkompositionen von avanciertestem Umgang mit den musikalischen Mitteln.

Nach der ‚Oper‘ folgt eine Pause der Neuorientierung, dann das für Maurizio Pollini geschriebene Klavier-Tonband-Stück ... Sofferte onde serene... (1976). Luigi Nono macht sich einen neuen Klang- und Ausdrucksbereich zunutze, die Live-Elektronik, den spontan und unmittelbar gesteuerten Klang. Es folgen hauptsächlich kammermusikalisch besetzte Werke, hohe Frauenstimmen und die Bassflöte spielen in ihnen eine besondere Rolle. Höhepunkt ist das Streichquartett Fragmente, Stille – An Diotima, Musik der kaum mehr wahrnehmbaren, hochdifferenzierten klanglichen Veränderungen, oft an der Schwelle des Schweigens angesiedelt. Thematisch wird jetzt die Suchbewegung nach dem Klang, der dank elektronischer Manipulationen in der Schwebe gehalten oder durch den Raum geschickt wird. Die Figur des Wanderers kommt ins Visier, in diesem Sinn ist Prometeo (1981 bis 1984) zu verstehen, die äußerliche Kulmination dieser Suche; Nono nennt das riesige Stück auch „Tragödie des Hörens“. Ein kurzes Orchesterstück A Carlo Scarpa architetto ai suoi infiniti possibili (1985) ist ein zartes Tongespinst, das erstmals konsequent die Mikrointervalle normaler Instrumente benutzt. Das 1987 für die große Münchner Philharmonie und die Philharmoniker geschriebene Camminantes... Ayacucho baut das Mikrointervallsystem aus, verschränkt die so gewonnene harmonische Farbigkeit mit der Idee des venezianischen Raumklangs und lässt das Ganze aus der nach Freiheit suchenden Philosophie des tragischen Giordano Bruno heraus aufleuchten. Der Gedanke des Wanderns, schon im Titel enthalten und dort mit einem peruanischen Rebellenort vielsagend assoziativ verknüpft, durchdringt das mehrere Chöre sowie solistisch Mezzosopran und Bassflöte fordernde Stück im Kleinen wie im Großen.

„Alle meine Werke gehen immer von einem menschlichen Anreiz aus: ein Ereignis, ein Erlebnis, ein Text unseres Lebens rührt an meinen Instinkt und an mein Gewissen und will von mir als Musiker wie als Mensch Zeugnis ablegen“, dieses Bekenntnis von 1960 gilt für Luigi Nono noch immer. Ebenso das Wort von Karl Amadeus Hartmann: „Nono klagt an, und seine Sprache ist Feuer.“

Wolfgang Schreiber

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.