Symphonie Nr. 4 B-dur op. 60

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t1 Konzertführer
Ludwig van Beethoven
Symphonie Nr. 4 B-dur op. 60

Nicht zuletzt ist die Größe Beethovens durch die Tatsache gekennzeichnet, dass seine Werke in ihrer Verschiedenheit kommende, durchaus divergierende Entwicklungsstränge antizipieren. Auch von der vierten Symphonie, die in manchem aus dem ‚gewohnten Rahmen‘ des Beethovenschen Symphoniestils herausfällt, kann man sagen, dass sie Impulse für die kommende Generation setzte. Robert Schumann bezeichnete die Vierte einmal als die ‚griechisch schlanke‘ unter den Symphonien Beethovens. Das trifft ihre Haltung, sagt zudem noch wichtiges aus über ihre Wirkungsgeschichte. Erinnert wird man dabei an Hölderlins geistige Flucht ins sonnige, offene und die Gefühle nicht verbergende Griechenland, weg von deutscher Geschäfts- und Paragraphenmentalität, von sturem und eingefahrenem Geist. Dieser Ausbruch klingt auch im Werk Schumanns an, vielleicht noch deutlicher in den Kompositionen Mendelssohns. Gerade der Grundcharakter von dessen Musik wirkt wie eine Auseinanderfaltung des in der vierten Symphonie Beethovens Angelegten: freies Spiel ungebundener Geister.

Beethoven, wie wohl kein anderer Komponist, reflektierte in jeder seiner Symphonien stets von neuem über Formen musikalischer Aussage und entwickelte hierbei stets neue Ansätze der kompositorischen Darstellung. Als er 1806 an der vierten Symphonie schrieb, lagen schon seit zwei Jahren Skizzen zur Fünften vor, deren Komposition sich über mehr als drei Jahre erstreckte. Die Vierte suchte im Gegensatz zu der Fünften eindeutigere Konturen; allerdings nicht in Rückwendung zu einem etwa an Haydn oder Mozart angelehnten Satz, sondern in der Herauspräparierung klarer und zugleich gegensätzlicher Strukturen - und zwar in jedem Satz auf anderer Ebene. Für den ersten sind hier tonales Schwanken, auskomponierte Unsicherheit auf der einen Seite und demonstratives Befestigen auf der anderen zu nennen. Die langsame Einleitung verblüfft durch umgreifendes tonales Vagieren, durch stete Verunsicherung. Dem Anfangston b wird schon im zweiten Takt durch die Unterterz ges in den Streichern seine fundamentale Bedeutung entzogen, die absteigenden Terzengänge rücken das in den Bläsern gehaltene b immer in neues Licht, ohne dass sich eine genaue Bestimmung verfestigt. In suchenden Violinfloskeln und mehrfachen Ansätzen wird schließlich ein A-dur-Klang erreicht, denkbar weit von der Haupttonart entfernt. Dem durchaus herauspräparierten Ton a widerfährt nun das gleiche wie schon dem Anfangston, wieder wird die große Terz daruntergesetzt. Doch das, was zu Beginn als Verunsicherung durch ‚falschen Ton‘ komponiert war, erweist sich nun in dialektischem Schritt als Befestigung - denn urplötzlich befindet man sich in F-dur, der Dominante der Haupttonart. Überschwänglich wird sie in demonstrativen Anläufen ergriffen, beglückt gewissermaßen vom gefundenen Ausweg. Es ist gerade diese Dichotomie der Setzung (natürlich nicht nur als Gegensatz von Einleitung und schnellem Teil, sondern auch in diesem fortwirkend), die die formale Gestaltung bestimmt und im Folgenden sehr schlichte musikalische Strukturen erlaubt, ja erfordert. Die Legitimation dafür resultiert in der dichotomen Gesamtkonzeption des Werkes, die Einfluss natürlich auf Form und auf Themengestaltung nimmt.


Im zweiten Satz ist das widersprüchliche Paar sehr leicht auszumachen. Auf der einen Seite steht ein pochend starres, paukenähnliches Motiv, mit dem der Satz anhebt, auf der anderen eine weitgeschwungene Kantilene. Merkwürdigerweise herrschen auch zwei Zeitebenen. Während man bei dem Pochmotiv geneigt ist, in Achteln zu zählen (wozu auch das langsame Zeitmaß anregt), ist die melodische Ebene deutlich am Viertelwert ausgerichtet. Es ist nicht zuletzt diese Spannung, die diesem beeindruckenden Satz so erregende Wirkung verleiht. Auch die beiden folgenden Sätze präparieren widerstreitende Prinzipien heraus. Im dritten ist es ein rhythmisch-metrisches, nämlich die Entgegensetzung von zweizeitiger Melodik und dreizeitigem Taktschema -und zwar schon gleich am Beginn einer demonstrativ aufstampfenden Deutlichkeit. Im Finale schließlich wäre das Widerspruchspaar mit den Begriffen ‚motorische Drehfigur‘ und ‚Durchbruch zur Kantabilität‘ anzugeben. Der ganze Satz beruht im Grunde auf einem winzigen Zentralmotiv, das gleich anfangs in stürmischen Sechzehnteln erklingt. In verschiedenen motivischen Ableitungen und durch Verlangsamung auf Achtel- bzw. Viertelebene ändert es seinen Charakter hin zum Gesanglichen. Gleichzeitig aber sind in diesem neuen Widerspruchspaar obendrein die der vorigen Sätze (Verunsicherung - Festigung, verschiedene Zeitebenen, Verunklärung des Metrums) aufgehoben.

Beethoven hat einmal, gefragt nach dem Wesen seines Komponierens, emphatisch darauf verwiesen, dass er stets von zwei divergierenden Prinzipien ausgehe, dass gerade dies ein zentraler Schlüssel zu seinem Werk sei. Die vierte Symphonie lässt in ihrer Klarheit der Disposition ahnen, wie umfassend Beethoven dies in kompositorische Form umzusetzen suchte.
Reinhard Schulz

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.