Symphonie Nr. 2 D-dur op. 36

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t1 Konzertführer
Ludwig van Beethoven
Symphonie Nr. 2 D-dur op. 36

In dem Maße, in dem der vorausgegangenen C-dur-Symphonie der Bonus des originellen Erstlingswerkes erteilt wurde, hat die zweite um ihre Existenzberechtigung zu kämpfen. Von durchweg heiterer Grundstimmung sei sie (als ob dies ein Makel wäre), fröhlich und unbeschwert, eben noch kein echter Beethoven. Erst in der Eroica käme Beethovens rigorose Handschrift des moralisierenden Appells zum Ausdruck, sie hingegen sei noch zu sehr den Vorbildern Haydn und Mozart verpflichtet. Die Zeitgenossen urteilten anders: „Sie [die zweite Symphonie; B. R.] ist ein merkwürdiges, kolossales Werk, von einer Tiefe, Kraft und Kunstgelehrsamkeit, wie sehr wenige“, schrieb ein Rezensent im Jahre 1804. Immer wieder wurde das Bizarre an ihr hervorgehoben, was schließlich in die Frage mündete: „Warum wollen wir denn von dem Komponisten [. . .], dass er nur an den hergebrachten Formen hänge, nur immer dem Ohre schmeichle, nie uns erschüttere und über das Gewohnte, wenn auch etwas gewaltsam, erhebe?“ (Allgemeine Musikalische Zeitung, Februar 1812). Das Neuartige der zweiten Symphonie, die nichts mit Mozarts diskreter Distanz zu tun hat, wurde zu Beethovens Lebzeiten schärfer erkannt, als uns das heute mit all den eingefahrenen Hörgewohnheiten möglich ist.

Das 1802 entstandene Werk fällt in das Jahr des „Heiligenstädter Testaments“, jenem erschütternden Dokument der Verzweiflung über die zunehmende Taubheit, die wachsende Isolation. „Es fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben“, bekannte Beethoven. Wenn von dieser depressiven Gemütsverfassung kaum etwas in die D-dur-Symphonie eingeflossen ist, so ist das weder eine „historische Lüge“ noch ein „Demento des ‚Heiligenstädter Testaments‘“, wie Kretzschmar es wahrhaben wollte, sondern hängt zum einen an der bereits 1801 entworfenen Konzeption, und zeigt darüber hinaus jene künstlerische Unabhängigkeit, die oft genug weit ab von biographischen Lebensumständen sich ereignet. In Opus 36 realisiert Beethoven erstmals eine Ausweitung der Form, einen großräumigen Zusammenhang, wie er bis dahin unerhört war. Die langsame Einleitung hat in ihrer ungewöhnlichen Länge allenfalls in Mozarts Prager Symphonie ein Vorbild. War sie dort aber noch Introduktion, Vorbereitung, so erhält sie hier massives strukturelles Gewicht. Der auftaktige Tuttischlag und die davon schroff abgesetzte Holzbläser-Kantilene stecken den Rahmen für die gesamte Symphonie ab. Die Streicher greifen diese warm atmende Geste auf und versehen sie mit ornamentalen Umspielungen. Das Girlandenartige breitet sich mehr und mehr aus, immer metrisch kontrolliert von den pochenden Sechzehntel und Triolen in den Mittelstimmen. Völlig unvorbereitet bricht bleierner d-moll-Dreiklang daraus hervor, der wie ein Vorgriff auf die Neunte scheint, jeder Verzierung und verbindlich sich gebender melodischer Durchgangslinie entkleidet (Takt 23f). Dadurch wird ex negativo die Bedeutung des Ornaments unterstrichen, das in Form des Triller, des Doppelschlags und der nach oben gerichteten Schleife eine grundlegend neue Rolle zu spielen beginnt. Es ist nicht mehr schmückendes Beiwerk, sondern wird zum strukturbildenden Element. Der Triller ist jetzt in der Lage, aus sich selbst wirkliche Motivik zu gebären, wie das Hauptthema des Finales zeigt. Die Schleife bestimmt wesentlich den Kopfsatz und dessen erstes Thema als dynamisches Element so sehr, dass sie einen großen Teil der Durchführung allein beherrscht. Aus dem Ornament, das bisher eher spielerischen Charakter besaß, wird hier das Material eines geistvollen Dialogs. Im Gegensatz dazu ist das Seitenthema des Kopfsatzes (vgl. den d-moll-Akkord der Einleitung) als geradlinige Dreiklangsstruktur gebaut, die dann in die nun bekannten Fortissimo-Schläge mündet (Takte 96 bis 101). Das Gefälle der beiden Themen, ihre Dialektik, aus der der klassische Symphoniesatz sich wesentlich legitimiert, liegt hier weniger in einer Polarisierung des Ausdrucks, als in ihrem verschiedenartigen Bau. Dort auftaktig dynamisches Ornament, hier abtaktig nackter Dreiklang. Kein Wunder, dass die Zeitgenossen das Wilde dieses Werkes hervorgehoben haben.
Auch der scheinbar so idyllische langsame Satz nährt sich aus diesen Elementen. Wie im analogen Satz des frühen B-dur-Klavierkonzerts das von Beethoven so verehrte Ideal von Mozarts Zauberflöte angerufen wird, so zeigt sich auch hier die Verwandlung von vokalem Ausdruck in die instrumentale Form. Nicht zufällig ist der Satz mit ‚Larghetto‘ überschrieben, eine Tempobezeichnung, die im Opernbereich häufig für zärtliche Arien verwendet wurde, so eben auch für Taminos Bildnis-Arie. Der hehre und gleichwohl intime Charakter, wie Beethoven ihn verstand, fließt hier in verwandter Geisteshaltung ein. Als ob dies nicht ausufern dürfte, wird der Satz am Ende herumgerissen. Knapp formulierte Akkordblöcke in schroffem, dynamischem Wechsel beenden die Idylle.

Sowohl das Scherzo als auch vor allem das Finale zeigen Beethovens sarkastischen, geistreich verunsichernden Witz. Das Kopfmotiv des letzten Satzes, das wesentlich aus dem Triller seine Dynamik erhält, stürzt innerhalb von zwei Takten fast zwei Oktaven ab, versehen mit Sforzati auf unbetonten, ja im alla breve-Takt gleichsam nicht vorhandenen Taktteilen. Ein Parforceritt ohnegleichen beginnt, ein fast zynisches Spiel mit der musikalischen Konvention. Immer wieder wird das Kopfmotiv gewendet, erscheint zur ‚Unzeit‘, wird dynamisch für Momente in sein Gegenteil verkehrt. Uns Hörern schwankt der metrisch sichere Boden unter den Füßen. Dieses Feuerwerk der Pointen sucht selbst bei Haydn seinesgleichen und kann nur noch im Finale von Beethovens erstem Klavierkonzert eine Entsprechung finden. Es entsteht eine Mischung aus Eleganz und derbem Sarkasmus, den der spätere Beethoven dann in die radikal gesuchte Einsamkeit seiner musikalischen Überzeugungen verwandeln wird.
Bernhard Rzehulka

 

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.