Ouvertüren und Schauspielmusik

Zurück
t1 Konzertführer
Ludwig van Beethoven
Ouvertüren und Schauspielmusik

Beethoven schrieb insgesamt elf Ouvertüren, die bis auf eine sämtlich mit dem Theater zu tun haben, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise. Die Ausnahme bildet die Ouvertüre zur Namensfeier op. 115, die Beethoven 1814/15 komponierte, laut Manuskript zum Namenstag unsers Kaisers, nämlich Franz 1. von Österreich. Inhaltlich und formal stellt das Werk keine Ausnahme dar; es könnte ebenso gut eine Theaterouvertüre sein. Mit den drei Ouvertüren Die Ruinen von Athen op.113 (1811), König Stephan op.117 (1811) und Die Weihe des Hauses op. 124 (1822) teilt es die Eigenschaft, eine Gelegenheitsarbeit zu sein, geschaffen für ein einmaliges Ereignis. Bei den genannten drei Ouvertüren waren dies Theatereröffnungsfeiern in Pest (op. 113 und 117) sowie in Wien (op.124), die mit eigens dazu verfassten Festspielen historisch-allegorischer Art begangen wurden. Beethoven schrieb dazu nicht nur die Ouvertüren, sondern auch Theatermusik, die jedoch wegen ihrer Bindung an den speziellen Anlass keinen Eingang ins allgemeine Musikrepertoire zu finden vermochte. Die feierlichen Anlässe verlangten einen ebenso festlichen wie heiterfreudigen Ton, dem Beethoven mit seiner Musik entsprach. In der Ouvertüre Die Weihe des Hauses nahm er sich den Gestus Händelscher Ouvertüren zum Vorbild; das Allegro wird durch ein nach barockem Muster gestaltetes Thema und dessen fugenartige Durchführung bestimmt. König Stephan, ein Sujet aus der ungarischen Geschichte, ist ein Stück ‚all'ungherese‘. Die Tatsache, dass bei diesen Kompositionen nicht an ein Fortwirken über den konkreten Anlass hinaus zu denken war, ließ ein Moment von Beiläufigkeit und Ungewichtigkeit in die Musik miteinfließen, das vermutlich der Grund dafür ist, dass diese Ouvertüren bis heute im Schatten der anderen stehen, die zum Teil zwar auch zu bestimmten Anlässen geschaffen wurden, sich jedoch von Anfang an unmissverständlich über den jeweiligen Anlass hinaus auf allgemeine Verbreitung und Gültigkeit richteten. Bei diesen Werken handelt es sich um die Ouvertüre zu dem Ballett Die Geschöpfe des Prometheus op. 43, die zwei Schauspielouvertüren Coriolan und Egmont sowie die vier Ouvertüren zur Oper Fidelio. Die Prometheus-Ouvertüre (1800/01), neben jener zu Die Ruinen von Athen die kürzeste und gleichsam schwereloseste, steht in Form und Charakter der ersten Symphonie nahe. Es ist die früheste Ouvertüre, die Beethoven schrieb; die in Bonn 1790/91 komponierte Musik zu einem Ritterballett enthält keine Ouvertüre.

Während in Beethovens Symphonien die langsame Einleitung zu Beginn eher die Ausnahme ist als die Regel, findet sich unter seinen Ouvertüren nur eine einzige, Coriolan, die ohne langsame Einleitung auskommt und sogleich mit dem Allegro einsetzt. Formal folgen die Ouvertüren ausnahmslos der Sonatenform, auch wenn unverkennbar ist, dass Beethoven sie der Gattungstradition gemäß anders handhabt als in den Symphonien und je nach Sujet modifiziert. Es gibt Ouvertüren ohne ausgeprägten Seitensatz (Die Weihe des Hauses) und ohne Reprise (Leonore II), die Exposition wird prinzipiell nicht wiederholt, und an die Stelle der Durchführung tritt häufig ein Abschnitt, der entweder den kontrastierenden Mittelteil einer Bogenform A-B-A bildet (Die Ruinen von Athen) oder – was fast die Regel ist – nur die Funktion einer Überleitung zur Reprise erfüllt. Geht die Tendenz in den Symphonien dahin, die Durchführung nach Gewicht und Ausdehnung an Exposition und Reprise anzugleichen oder gar darüber hinauszuführen (Eroica), so sind in den Ouvertüren die Durchführungen mit Ausnahme von Leonore II deutlich gewichtsloser und kürzer als die anderen Formteile; sie umfassen meist kaum halb so viele Takte wie Exposition oder Reprise. Das entspricht der Logik der Sonatenform. Wird in Kompositionen über bestimmte Sujets an der Reprise festgehalten – und die Reprise ist konstitutiv für die Sonatenform –, so kann die Durchführung nicht der Ort der endgültigen Auseinandersetzung oder gar der Lösung sein. Diese findet erst in der Coda statt, die darum in Beethovens Ouvertüren, von wenigen Ausnahmen abgesehen, deutlich länger und gewichtiger ist als die Durchführung.
Egon Voss

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.