Louis Spohr

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t1 Konzertführer
Louis Spohr
Louis Spohr

Braunschweig, 5. April 1784 – Kassel, 22. Oktober 1859

Während seines Lebens und Wirkens galt Louis Spohr seinen Zeitgenossen als Fachautorität ersten Ranges. Hochgeachtet als Komponist, bedeutendster Geiger seiner Generation neben (nicht nach!) Paganini, einer der ersten ‚modernen‘ Dirigenten, Mitinitiator ebenso der Renaissance Alter Musik wie einer frühen Beethoven-Pflege, Förderer des jungen Wagner und als Violinpädagoge Ausbilder von beinahe zweihundert Schülern aus Europa und Übersee, genoss Spohr in den Jahren zwischen 1810 und 1840 die Stellung einer regelrechten ‚musikalischen Institution‘. Die Reihe seiner Bewunderer enthält so prominente Namen wie Goethe, Wieland, Humboldt, Jean Paul, Cherubini, Beethoven, Paganini, Berlioz, Mendelssohn, Chopin, Schumann, Liszt und Wagner. Über sein Künstlertum hinaus war auch der bescheidene, charaktervolle, stets humanitär handelnde Mensch Spohr, der nach politischer Freiheit und sozialen Verbesserungen strebende Patriot, vielen Zeitgenossen ein Leitbild. In welchem Maße Louis Spohr durch seine besten Werke zum Initiator romantischer Musikentwicklung wurde, muss aus den zahlreichen Anregungen klarwerden, die jüngere Meister von ihm aufnahmen; noch Brahms, Tschaikowsky, Dvořák und Richard Strauss haben aus dem Oeuvre Louis Spohrs Themen zitiert, bestimmte Gattungsspezifika und formale Modelle entlehnt. Einflüsse Spohrs auf Mahler und den frühen Schönberg erweisen die Bedeutung des Romantikers selbst für die musikalische Moderne.

Der in den 1830er Jahren von mehreren Schicksalsschlägen heimgesuchte Komponist musste schließlich auf Grund familiärer Erfordernisse mehr und länger produktiv sein, als dies bei seiner sonst betont selbstkritischen Einstellung zu erwarten gewesen wäre. Ausgerechnet die ab 1840 entstandenen Spätwerke, meist schnell und routiniert geschrieben, aber substantiell unergiebig, wurden unglücklicherweise in hohen Auflagen verbreitet; sie führten rasch zu Vorurteilen dem gesamten Spohr‘schen Oeuvre gegenüber, die in der Folgezeit und bis heute die wahre Bedeutung Spohrs verdunkelt und so die Erkenntnis weitgehend verhindert haben, dass eine Negation der besten Werke dieses Komponisten zu Missverständnis und Verzerrung der romantischen Musikentwicklung führen muss.

Am 5. April 1784 als Sohn eines Arztes und Enkel lutherischer Pastoren in Braunschweig geboren, erhielt Louis Spohr seit dem fünften Lebensjahr Geigenunterricht, kam bereits als Gymnasiast sowohl mit den damals neuesten musikalischen Strömungen in Kontakt (deutsche und französische Opern, darunter die Mozart‘schen, Beethovens frühe Kammermusik) wie auch – durch die Kirchenmusik der konservativen Kantoren – mit dem damals noch lebendigen Erbe des 18. Jahrhunderts (Bach und dessen Söhne, Händel, Telemann, Graun). Durch Eigeninitiative erlangte der Fünfzehnjährige eine Stelle in der Braunschweigischen Hofkapelle. Von seinem Landesherrn gefördert, erhielt er von dem Geiger Franz Eck auf einer gemeinsamen Russland-Reise 1802/03 seine Meisterausbildung. Sein Debüt als Violinvirtuose und Komponist im Leipziger Gewandhaus wurde im Dezember 1804 zu einem Triumph und begründete seinen Ruhm. Leiter der Hofkapelle in Gotha (1805 bis 1812), ging Spohr 1812 bis 1815 nach Wien, wo er unter anderem das Orchester des Theaters an der Wien leitete und mit Beethoven Freundschaft schloss. Zwei große Konzertreisen, 1816/17 durch die Schweiz und Italien und 1820/21 nach London und Paris, ließen ihn endgültig in den Rang einer internationalen Berühmtheit aufsteigen, gleichermaßen als Geiger wie als Komponist. War die erste Lebenshälfte als Dasein eines immer wieder als Dirigent auftretenden Komponisten und Virtuosen verlaufen, so wird Spohr in der zweiten zu einem Komponisten und Interpreten am Dirigentenpult, der gelegentlich noch als Solist auftrat, dessen Konzertreisen meist einer Einladung zur Leitung großer Aufführungen und Musikfeste im In- und Ausland folgten. Analog dazu liegt der Schwerpunkt im Schaffen des Komponisten bis 1822 hauptsächlich auf den konzertanten Gattungen, während es sich in den Jahren danach auf Symphonik, Oper und oratorische Werke verlagert; die Kammermusik hat Spohr während seines gesamten schöpferischen Lebens gepflegt und um einige ausgefallene Gattungen und eine Reihe wertvoller Beiträge bereichert. Als Louis Spohr am 22. Oktober 1859 in Kassel stirbt, hat Wagner wenige Wochen zuvor Tristan und Isolde beendet, ein Werk, dessen Harmonik von so großer Bedeutung für die Moderne sein sollte und die Spohr so hellsichtig vorbereitete und teilweise vorweggenommen hatte. Von den insgesamt 27 konzertanten Werken Louis Spohrs sind 18 Konzerte für Violine und Orchester (davon drei zu Lebzeiten ungedruckt), fünf Doppelkonzerte (je zwei für zwei Violinen bzw. Harfe und Violine, eines für Violine und Violoncello; alle als Concertante bezeichnet) sowie vier Konzerte für Klarinette und Orchester. Das bekannteste der Violinkonzerte ist heute Nr. 8 a-moll op. 47 (1816) in Form einer Gesangsszene, doch repräsentiert es keineswegs den höchsten Qualitätsstandard Spohr’scher Komposition und Orchesterbehandlung; es ist vielmehr – gleich dem dritten Klarinettenkonzert (f-moll WoO 19, 1821) ein typisches ‚Reisekonzert‘, das mit Orchestern minderer Qualität rechnet. Die Violinkonzerte Nr. 7 (e-moll op. 38, 1814), 5 (Es-dur op. 17, 1807), 2 (d-moll op. 2 , 1804) und 11 (G-dur op. 70, 1825) zeigen, dass Spohr bei den reifen Klavierkonzerten Mozarts und bei der französischen Schule (Viotti, Kreutzer, Rode) anknüpft, die gesteigerte romantische Virtuosität des Soloparts aber mit symphonischer Arbeit des Orchesters zu verbinden weiß; dies freilich bedeutet nicht eine Beethoven‘sche Übertragung symphonischer Prinzipien auf die Konzertform, die dort bisweilen zu Längen führen kann. Formale Knappheit und ein motivisch polyphon geführtes Orchester sind neben einem überaus schwierigen, aber nie vordergründig-virtuosen Solopart wesentliche Kennzeichen dieser Werke, deren musikalisches Niveau hoch über der Tagesproduktion komponierender Virtuosen steht. Gleiches gilt für die erste Concertante für zwei Violinen und Orchester (A-dur op. 48, 1808), die zweite Concertante für Harfe und Violine mit Orchester (e-moll WoO 14, 1807) sowie für die Klarinettenkonzerte Nr. 1 (c-moll op. 26 , 1808), 2 (Es-dur op. 57, 1810) und 4 ( e-moll WoO 20, 1829), die im Niveau an das einzige Werk Mozarts anknüpfen; Spohr hält sich wohlweislich von der etwas aufgesetzten ‚Schmissigkeit‘ und gelegentlichen Banalität Webers fern, wartet dagegen mit satztechnischen Finessen auf, wie dem Kopfsatz des Opus 26, der ganz aus einem zwei Takte langen Motiv der langsamen Einleitung erwächst.

Die wertvollsten Symphonien Spohrs sind die Nr. 2 (d-moll op. 49, 1820), 3 (c-moll op. 78, 1828), 4 (F-dur op. 86, 1832) und 5 (c-moll op. 102, 1837); sie schließen jene entwicklungsgeschichtliche ‚Lücke‘ zwischen der Klassik und der Hochromantik eines Mendelssohn und Schumann. Bemerkenswert ist die Ausrichtung der Nummer 3 auf das Finale hin (so sehr, dass Spohr dem Kopfsatz die Durchführung nimmt!) sowie das Zusammenfassen der Sätze zu Satzpaaren (durch die Thematik). Besonders in die Zukunft gewirkt hat die Nummer 4, sowohl durch ihre vom üblichen Bauschema ganz abweichende Anlage, die Tschaikowsky ohne große Änderungen in seine Pathetique übernahm, wie auch durch die Fernorchester-Effekte (die sich bei Berlioz und Mahler wiederfinden); die Polyrhythmen des langsamen Satzes verweisen auf Berlioz‘ Harold-Symphonie, die Gestaltung der Choral-Zitate im langsamen Finale auf entsprechende Stellen in der Symphonik Bruckners.

Unter den Chorwerken mit Orchester bzw. a cappella verdienen besonders das Apokalypsen-Oratorium Die letzten Dinge (1826) und die Messe (c-moll op. 54, 1821) für fünf Solostimmen und zwei fünfstimmige gemischte Chöre Beachtung. Beide Werke stellen seltene Ausnahmen dar, das Oratorium durch sein heikles Sujet (das erst im 20. Jahrhundert von Franz Schmidt wiederaufgegriffen wurde), die Messe durch ihre wohl einzigartige Synthese vokalpolyphoner Elemente des 17. und 18. Jahrhunderts und russischorthodoxer Kirchengesangstradition mit der Klangwelt der frühen Romantik. Mit dem Cäcilianismus und seinen Missverständnissen der Traditionen Alter Musik hat die Spohr‘sche Messe ebenso wenig zu tun wie die Konzerte und Symphonien mit dem – in der Musik ohnehin zweifelhaften – Begriff des ‚Biedermeier‘, da Spohrs typischer, so unverwechselbarer Stil längst vor dieser Epoche ausgeprägt war. Verständnis der Traditionen und deren schöpferische Umsetzung – statt in restaurativer Absicht alte Vorbilder zu kopieren – bestimmt die besten Chorwerke Spohrs, und es kann nicht verwundern, dass der ihm wesensverwandte Johannes Brahms sowohl in der Alt-Rhapsodie wie auch im Deutschen Requiem Teile aus den Letzten Dingen Spohrs anklingen lässt.

Hartmut Becker

 

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.