Klaus Huber

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t1 Konzertführer
Klaus Huber
Klaus Huber

geb. Bern, 30. November 1924 – gest. Perugia, 02. Oktober 2017

Eine hohe Assimilationsfähigkeit zeichnet das Werk des 1924 in Bern geborenen Klaus Huber aus. In den sechs Jahrzehnten seiner Komponistentätigkeit ist er seinen künstlerischen Grundüberzeugungen stets treu geblieben, was ihm erlaubt, eine konfliktgeladene Außenwelt sowie weit zurückreichende musikalische Traditionen und Einflüsse anderer Kulturen auf ästhetisch überzeugende Weise in sein Werk zu integrieren. Wie sein jüngstes Interesse an der arabischen Musikkultur zeigt, hat er sich diese Offenheit auch noch im achten Lebensjahrzehnt bewahrt. Am Beginn des 21. Jahrhunderts gehört Klaus Huber zu den markanten Komponistenpersönlichkeiten in Europa. In seinem umfangreichen Werk nehmen Vokalkompositionen eine bedeutende Stellung ein. Häufig thematisieren sie menschliche Grenzerfahrungen und existentielle Nöte. Huber verschränkt christliche Passions- und Erlösungsvorstellungen mit politischer Anklage und dem Bekenntnis zur menschlichen Freiheit und Würde. Das humanistische Credo verbindet sich mit hohen kompositionstechnischen Ansprüchen. In den Werken der siebziger und achtziger Jahre spielt die Theologie der Befreiung eine bedeutende Rolle. Seit den neunziger Jahren steht die Frage nach der Möglichkeit einer aktuellen künstlerischen Ethik im Zentrum: Wie kann Kunst in einer durchökonomisierten Welt Widerstand leisten gegen die Verdinglichung des Menschen? Modellhaft dargestellt wird dies an der Gestalt des russischen Dichters Ossip Mandelstam im Bühnenwerk Schwarzerde (Basel 2001). 1991, zur Zeit des ersten Golfkriegs, beginnt sich Huber mit Geschichte und Theorie der arabischen Musik zu befassen. Er sucht nach den verschütteten gemeinsamen Wurzeln von europäischer und orientalischer Tradition und übernimmt gewisse intervallische und rhythmische Elemente für sein eigenes Komponieren. Das Spätwerk zeichnet sich durch eine außergewöhnliche Differenzierung des Ausdrucks vor allem in den leisen Registern aus und, kompositionstechnisch, durch eine raffinierte Synthese von postseriellen Verfahrensweisen mit der Mikrointervallik arabischer Modi (maqamat), mit Dritteltönigkeit und anderen nichttemperierten Stimmungen. Bei seiner Erforschung von musiksprachlichem Neuland hat die Kontrolle durch das Ohr stets den Vorrang vor der abstrakten Spekulation.

Ein bedeutender Zweig in Klaus Hubers Schaffen sind die großen vokal-instrumentalen Werke: Oratorien wie Soliloquia nach Augustinus (Zürich 1964) ... inwendig voller Figur... nach Texten aus der Johannes-Apokalypse und dem Traumgesicht-Aquarell Dürers (Uraufführung zum Dürer-Jahr, Nürnberg 1971) sowie das monumentale Erniedrigt, Geknechtet, Verlassen, Verachtet... nach Texten u. a. von Ernesto Cardenal (Donaueschingen 1983). In diesen Werken führt Klaus Huber die spezifisch schweizerische Oratorientradition des 20. Jahrhunderts, die mit Namen wie Arthur Honegger, Frank Martin und seinem Lehrer Willy Burkhard verbunden ist, auf zukunftsträchtige Weise weiter. Unter dem Titel Spes contra spem (Düsseldorf 1989) folgt ihnen noch ein groß besetztes, abendfüllendes Werk, das mit Texten von Herwegh und Wagner über Rosa Luxemburg bis zu Brecht, Canetti und Peter Weiss als polemisches „Kontra-Paradigma zur Götterdämmerung“ konzipiert ist. Danach entwickeln sich die großen vokal-instrumentalen Werke mehr in Richtung äußerlich kompakter, im Innern komplex strukturierter Formen, beispielhaft verwirklicht im Kammeroratorium La terre des hommes (Paris 1990) und in der fein verästelten Raummusik Die umgepflügte Zeit (Frankfurt 1990).

In späteren Werken gehen die Vokal- und Instrumentalstimmen eine innige Verbindung ein, die Orchesterbesetzung ist reduziert und – was sich schon in Die umgepflügte Zeit ankündigte – in farblich delikat aufeinander abgestimmte Kleingruppen aufgelöst. Im Kammerkonzert Die Seele muss vom Reittier steigen... (Donaueschingen 2002) für Cello, Baryton, Countertenor und 37 Instrumentalisten, darunter auch Barockinstrumente, besitzt dieses Verfahren einer Differenzierung nach innen Züge höchster Meisterschaft. Es korrespondiert mit dem mystischen, zwischen Trauer, Klage und Hoffnung schwankenden Text des palästinensischen Dichters Mahmoud Darwisch und schafft auf souveräne Weise einen Gleichklang zwischen arabischer Idiomatik und Hubers eigener Musiksprache. Ebenfalls tief in den kompositorischen Molekularbereich hinein dringen die arabischen Einflüsse im Orchesterstück Lamentationes de fine vicesimi saeculi (Freiburg 1994), in dem das temperierte Tonsystem weitgehend durch eine auf arabischen Modi beruhende Tonalität ersetzt wird. In eine Zweitversion des Werks hat Huber die Stimme eines Sufi-Sängers hineinmontiert, der gegen Schluss in einer Art Solokadenz einen traditionellen religiösen Gesang anstimmt.

Die charakteristische Verbindung von Gesellschaftskritik und religiös-transzendenter Sicht artikuliert sich auch in den reinen Instrumentalwerken Hubers. Das Orchesterstück Tenebrae (Warschau 1986) basiert auf den Worten der Karfreitagsliturgie „tenebrae factae sunt“ („Es entstand eine Finsternis“) und stellt nach Hubers Worten „eine ganz und gar profane Auslegung des Kreuzes“ dar. Es besteht aus drei ineinander übergehenden Teilen. Die „Verfinsterung des menschlichen Lebens“ und die „Unterdrückung der Erniedrigten und Beleidigten durch offene oder strukturelle Gewalt“ (Huber), aber auch deren Überwindung werden durch strukturelle und formale Verfahren von eindringlicher Sprachkraft sinnfällig gemacht. Mit Hilfe serieller Verfahren – das gesamte Material wird in den ersten fünfzehn Takten exponiert – wird im ersten Teil die ‚strukturelle Gewalt‘ ausformuliert. Der zweite Teil, überschrieben mit ‚Golgatha‘, stellt mit Seufzermotivik und Foltermetaphern extremes, stummes Leiden vor; unterschiedliche Formen von Zeiterfahrung – gemessene und erlebte Zeit – kollidieren miteinander. Der dritte Teil, ‚in modo choralis‘, bringt den Durchbruch zur Erlösung bzw. Befreiung durch einen einleitenden klanglichen Ausbruch und das darauffolgende Zitat von Christ ist erstanden. Das Tonmaterial der Choralzeilen wird zuerst in rhythmisch freier Weise zu einer dichten Textur verwoben und dann in einem exakt notierten, komplexen Tuttisatz zur Apotheose geführt.

Auch im dreisätzigen Violinkonzert Tempora (Winterthur 1970) spielen programmatische Gesichtspunkte hintergründig eine Rolle, obwohl der Titel (‚Zeiten‘) eine musikimmanente Problemstellung – Komponieren als Gestalten von Zeitverläufen – suggeriert. Im ersten Satz, ‚Genesis‘, der aus Geräuschen nach und nach zu präzisen Tonhöhen (auch Vierteltöne) voranschreitet, sind drei wellenartig strukturierte Klangschichten übereinander gelagert; ihre ‚Wellenlängen‘ verhalten sich im Verhältnis 8:13:21 (Fibonacci-Reihe). Der zweite Satz, ‚De natura‘, stößt nach Huber „ein Fenster zur Innerlichkeit“ auf. Die Abschnitte des dritten Satzes sind mit ‚Quod libet, quod tacet, quod nescitur‘ überschrieben. Hier verbindet sich das Soloinstrument mit immer wieder anderen Einzelstimmen oder Kleingruppen. Mit einem Zitat der Kärntner Volksweise aus Alban Bergs Violinkonzert, mit einer Anspielung auf das Apokalypse-Stück ... inwendig voller Figur... (Ad-libitum-Vokaleinsatz einer Instrumentalistengruppe mit „Weh!“-Schreien) und dem Einsatz von Trommelwirbeln tauchen semantische Valeurs auf, die es verbieten, im Stück nur ein virtuoses Solokonzert zu sehen.

Max Nyffeler

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.