Symphonien zwischen 1757 (oder 1758) und 1761

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t1 Konzertführer
Joseph Haydn
Symphonien zwischen 1757 (oder 1758) und 1761

Nr. 1, 37, 18, 19, 2, ‚B‘, 16, 17, 15, 4, 10, 32, 5, 11, 33, 27, ‚A‘, 3, 20
Die Anfänge des Symphonikers Haydn sind biographisch ungewiss. Wir wissen, dass er um 1758 in die Dienste des Grafen Morzin in Lukavec bei Pilsen trat und dort nur kurze Zeit blieb, weil der Graf um 1760 seine Kapelle auflöste. Aus diesen ersten Erfahrungen mit dem Orchestersatz sind uns rund zwanzig Symphonien überliefert, die ein ungemein reiches Bild von Haydns Experimentierlust vermitteln und zugleich seinen Abstand zur europäischen Symphoniewelle der fünfziger Jahre unter Beweis stellen. In Wien hatte der junge Haydn bereits die Symphonik der Wiener Schule (Monn, Wagenseil, Reutter) kennengelernt, und als Diener des italienischen Opernkomponisten Nicola Porpora direkt die neapolitanische Sinfonia (Opernouvertüre) studieren können. Die Einflüsse brauchen gar nicht im Einzelnen aufgeschlüsselt zu werden, denn entscheidend ist nur, was Haydn, und zwar von Anfang an, daraus machte. Sollte die Symphonie Nr. 1 D-dur wirklich die ‚erste‘ sein, dann wäre das ein Talentstreich ohnegleichen. Selbst in Haydns Schaffen steht diese Symphonie mit ihrem überquellenden thematischen Reichtum des ersten, der subtilen Verschiebungstechnik von Perioden im zweiten und dem rhythmischen Elan des letzten Satzes für sich. Nach eigenen Angaben, durch Griesinger überliefert, entstand sie im Jahre 1759. Nun ist aber von der vermutlich danach komponierten Symphonie Nr. 37 C-dur ein mit 1758 datiertes Autograph erhalten, sodass die Chronologie hypothetisch bleiben muss. So ist auch die Liste der Symphonien zwischen 1757 und 1761, das heißt bis vor den Dienstantritt beim Fürsten Paul Anton Esterházy (Vertrag am 1.Mai 1761 abgeschlossen) zu verstehen.

Gemeinsam ist den für Lukavec komponierten Symphonien die Besetzung ‚a 8‘, also neben den Streichern noch je zwei Oboen und Hörner. Damit löst sich Haydn sogleich von der Wiener Tradition, die er aber in der Verwendung von musikalischen Floskeln reichlich belehnt. Betrachtet man die Symphonien genauer, dann tritt man in eine Fülle von kompositorischen Lösungen der Frage ein, was eine Symphonie in dieser Zeit alles sein kann. Es gibt den Wechsel von Drei- oder Viersätzigkeit und noch keine endgültige Entscheidung darüber, ob das Menuett in den Zyklus aufgenommen wird oder nicht und vor allem: an welcher Stelle es steht. Bei den dreisätzigen Symphonien Nr. 18 G-dur und Nr. 4 D-dur dient es sogar als Finale, freilich mit der stilisierenden Bezeichnung Tempo di Menuetto. Überhaupt wendet Haydn sein besonderes Augenmerk der Vielfalt der Finale-Gestaltungen zu, aus denen der Presto-Typus im Dreiachteltakt besonders herausragt. Dieser Typus ist es nun, der Haydn den Vorwurf späterer Zeiten eintrug, er komponiere als Finale nur ‚Kehraus‘-Sätze oberflächlichen Inhalts. Das mag für die leichtgewichtigeren frühen Symphonien zwar äußerlich zutreffen, aber man sollte bereits hier nicht Haydns Willen überhören, den Unterhaltungscharakter der Symphonie dieser Jahre allmählich abzustreifen. Die ersten drei Symphonien (Nr. 1, 37 und 18) sind bereits deutlich voneinander verschieden und exponieren gewissermaßen das Arbeitsfeld des Symphonikers Haydn. Mit der ausdrücklichen thematischen Expansion des Kopfsatzes der ersten Symphonie (immerhin mit fünf Themen!) setzt sich Haydn sogleich von der Tradition durch einen qualitativen Sprung ab, obwohl er gewisse Eigenheiten des Mannheimer ‚goût‘, wie etwa die anfängliche Crescendo-Walze und den rhythmischen ‚Drive‘, sehr wirkungssicher einsetzt. Aber was besagen angesichts der überragenden Originalität des Erstlingswerkes in der Gattung der Symphonie schon irgendwelche Einflüsse? In nuce finden wir hier bereits den ganzen Symphoniker Haydn vor einschließlich der kompositorischen ‚Überraschungen‘, die ihn unverwechselbar von der Konvention abheben. Mit den ersten drei Symphonien legt Haydn zudem seine drei zyklischen Grundtypen vor, von denen er später die viersätzige, ‚klassische‘ Anlage als fortan verbindlich (ab 1769) beibehalten wird. In der Symphonie Nr. 37 steht das Menuett noch an zweiter Stelle – in der Symphonie Nr. 68 (1774) geschieht das zum letzten Mal, allerdings aus inneren dramaturgischen Gründen (der langsame Satz ist ein ausgedehntes Adagio) –, während die Symphonie Nr. 3, die vorletzte und zugleich bedeutendste Symphonie für Lukavec, die spätere ‚klassische‘ Norm, zumindest äußerlich, vertritt. Als dritten Grundtyp verwendet Haydn in der Symphonie Nr. 18 die zyklische Anlage der barocken ‚sonata da chiesa‘, freilich nur auf die beiden ersten Sätze bezogen (Verhältnis Adagio-Allegro). Diesen Typus verwendet Haydn zum letzten Mal in der Symphonie Nr. 49 (1768). In der dritten Lukavec-Symphonie dagegen greift er noch weiter zurück: Der erste Satz ist im Triosonatensatz geschrieben, während die beiden anderen Symphonien der Lukavec-Phase im Kirchensonatentypus ‚modernere‘ Satztechniken aufweisen (Nr. 5 und 11). Der Vergleich der ersten beiden Lukavec-Symphonien Nr. 1 und 37 zeigt, den Kopfsatz betreffend, Haydns ganzes Spektrum dessen, was später zur ‚thematischen Arbeit‘ ausreifen wird: Die thematische Expansion der ersten Symphonie wird in der folgenden ins Gegenteil verwandelt, in die integrative Kraft eines unscheinbaren Motivs. Außerdem bedient sich Haydn in der Symphonie Nr. 37 des C-dur-Typus mit Trompeten und Pauken, der später immer wieder auftaucht und in Nr. 56 (1774) seinen Höhepunkt findet; es handelt sich um eine ganz eigene Reihe von Symphonien, die es so nur bei Haydn gibt (Nr. 37, 32, 33, 20 in der Lukavec-Phase und später, in Esterhàza, noch Nr. 38, 41, 48, 50 und 56). Die Symphonie Nr. 37 enthält auch den ersten Mittelsatz in Moll, ein Erbe der italienischen tristezza aus der Opern-Sinfonia der Neapolitaner.

Mit der Symphonie Nr.2 C-dur – ein anderer Typus der erwähnten Trompetentonart Haydns – betreten wir das Gebiet des ersten umfangreichen Kopfsatzes (193 Takte) mit kontrapunktischer Durchführung, einer neuartigen Idee des langsamen Mittelsatzes (Perpetuum mobile) und des ersten ausdrücklichen, scharf gegliederten Rondos (mit einem Minore-Couplet). Haydns synthetisierende Kraft, barocken Kontrapunkt und moderne (das heißt empfindsame und melodische) Haltung miteinander zu verbinden, macht sich deutlich bemerkbar, und sie führt zu dem außerordentlichen Ereignis jener Symphonie Nr. 3, die in jeder Hinsicht den Gipfel der Symphonien für Lukavec bildet: Alle Fäden des bis dahin von Haydn Entwickelten laufen hier zusammen und schaffen ein dichtes Gewebe von thematischer Profilierung – das Hauptthema des ersten Satzes ist eine in Dur vorweggenommene Variante des 1773 komponierten Anfangs der Symphonie g-moll KV 183 von Mozart (!) –, vom Ausgreifen der Durchführung auf die Reprise (erster Satz) bis hin zur Formulierung des Seitenthemas als eigenem ‚Charakter‘ und der Aufwertung des Menuetts (an dritter Stelle) zum Charakterstück durch subtile Kanonverfahren. Schließlich ist das dicht gearbeitete Fugato-Finale (die erste veritable Fuge gibt es im Finale der Symphonie Nr. 40 von 1763) mindestens ein Gegengewicht zum ersten Satz, wenn nicht sogar der Höhepunkt der ganzen Symphonie. Der Weg zu solchen Gestaltungsweisen war indessen weit, wenn auch nicht zeitlich. Die Symphonien zwischen der zweiten und dritten (in Hobokens Nummerierung) weisen die einzelnen, schrittweise vorgenommenen Stationen auf. Erwähnt sei nur der formale und inhaltliche Expansionsdrang im Kopfsatz der Symphonie Nr.17 F-dur, vereint mit neuartiger formbildender Dynamik, die Tendenz zur Vertiefung des thematischen Materials im Kopfsatz der Symphonie Nr. 16 B-dur, und zwar durch doppelten Kontrapunkt, und das Formexperiment im ersten Satz der Symphonie Nr. 15 D-dur (französische Ouvertüre). Es ist nicht verwunderlich, dass – zumindest vorerst – die charakteristischen Züge den ersten Sätzen vorbehalten sind. So prägt der Kopfsatz der Symphonie Nr. 4 D-dur (nach Nr. 15 komponiert) die überhaupt erste ‚dramatische‘ Durchführung Haydns aus, mit Crescendo-Wogen und Höhepunkt-Dissonanzen, die bereits Beethoven ahnen lassen, und zum ersten Mal auch ein achttaktiges, geschlossenes ‚Seitenthema‘, das besonders auffällig ist dadurch, dass es in Moll (!) auftritt. In der Durchführung experimentiert Haydn sogar mit der Dynamik: Die Entwicklung geht über in einen Rückbildungsprozess, der gleichsam Platz macht für den Forte-Eintritt der Reprise und primär durch ein planmäßig auskomponiertes Decrescendo hergestellt wird, wobei Haydn ein dreifaches piano intendiert, für das es damals noch überhaupt keine Vortragsbezeichnung gab. Soweit treibt Haydn seine kompositorischen Experimente um des neuen Ausdrucks willen. Die Durchführung des Kopfsatzes der zweiten C-dur-Symphonie mit Trompeten und Pauken (Nr.32) greift noch einmal weiter aus (sie umfasst immerhin sechzig Takte), und das Finale ist zum ersten Mal im Alla-breve-Typus, wenn auch recht kurz, gehalten. Die originelle Behandlung des Mannheimer Stils im ersten Satz der Symphonie Nr. 27 G-dur führt bereits an die Schwelle der Symphonie Nr. 3, während die letzte Lukavec-Symphonie, wieder in C-dur und mit Trompeten und Pauken, die Symphonie Nr. 20, den glänzenden Abschluss dieser ersten Gruppe von Symphonien Haydns bildet.
Dietmar Holland

 

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.