Zwischen den beiden Blöcken der sogenannten Pariser Symphonien (Hob. I: 82 bis 87) und der Londoner Symphonien (Hob. I: 93 bis 104) liegen entstehungsgeschichtlich gesehen fünf symphonische Kompositionen Joseph Haydns, die sich nicht praktikabel unter einer ‚ortsfesten‘ Überschrift zusammenfassen lassen. Dies mag, trotz der Qualitäten der betreffenden Werke, vielleicht der Grund sein, warum innerhalb von Schallplattenveröffentlichungen diese in den Jahren zwischen 1787 und 1789 entstandenen Symphonien nur im Ausnahmefall als ‚Paket‘ berücksichtigt werden. Die Editionspraxis geht, im Gegensatz zu den genannten Pariser und Londoner Kostbarkeiten, eher in eine selektive Richtung, wobei die Opera Nr. 88, 90 und 92 allem Anschein nach bevorzugt werden, während die ‚ungeraden‘ Kennzahlen im Schatten der Schwesterwerke bleiben.
Haydn hatte mit seinen hochdotierten Pariser Symphonien beträchtliches Aufsehen erregt und verstand es, den Erfolg zu nutzen. Seine experimentelle Haltung in den Werken etwa bis zur Mitte der achtziger Jahre hatte zu ungewöhnlichen Detaillösungen und konzeptionellen Akzentverschiebungen innerhalb des tradierten viersätzigen Formschemas geführt. Nun begannen sich Tendenzen einer stilistischen Sammlung, ja Abklärung abzuzeichnen, ohne jedoch die Erfindungslust und den Spieltrieb des Komponisten einzuengen. Reife und Witz – dies zeigt das Allegro con spirito-Finale aus der Symphonie in G-dur (Hob. I: 88) – können unter solchen Umständen synchron geschaltet werden. Und fast möchte man meinen, dass beide Qualitäten in den Haydnschen Symphonien dieser Phase einander bedingen. Andere, auf den ersten Blick hin einander ausschließende Begriffe wären anzufügen, um diese eigentümliche Ambivalenz zu charakterisieren: Eleganz und Strenge, Leidenschaftlichkeit und Gelöstheit, Improvisation und Konstruktivität. Ein so ungezwungen hereintrudelndes Thema wie jenes aus dem Finale der G-dur-Symphonie offenbart neben einer Portion kauzigen Hintersinns zunächst das ungenierte Bestreben, die Kunst einfach sein zu lassen. Aber unversehens durchbricht Haydn das gesunde Themenpingpong und gewährt dem aufgeschlossenen Hörer Einblick in das Labor eines Satztechnikers, der dem aufgeräumten motivischen Nacheinander eine problematischere Richtung zu geben vermag, wobei der technische Kunstgriff darin besteht, dass sich die Bewegung zu einem turbulenten Kanon verdichtet.
Die Symphonien in G-dur (Nr. 88) und F-dur (Nr. 89) stehen nicht nur in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Pariser Symphonien, sie wurden gezielt für die französische Metropole bereitgestellt. Haydn schrieb sie im Auftrag des Geigers Peter Tost, der sich sicher sein konnte, mit zwei neuen Haydn-Kompositionen in Paris Erfolg zu haben. Tost arbeitete seit 1785 als Stimmführer der zweiten Geigen in Esterháza und organisierte, wahrscheinlich ohne Haydns Wissen, eine Schreibstube, in der er Kopien von erfolgversprechenden Partituren anfertigen ließ. Auf diese Weise dürften auch die Abschriften der beiden genannten Symphonien entstanden sein. Haydn zeigte sich betroffen, als er von den Forderungen verschiedener Verleger unterrichtet wurde, die sich auf jene von Tost erbetenen Werke bezogen. 1789 wandte sich Haydn brieflich an den Wiener Verleger Artaria: „Nun möchte ich gerne eine wahrheit wissen, und zwar, von wem Sie die 2 neue Sinfonien, so sie lezthin angeckündigt erhalten haben, ob Sie solche directe von Herrn Tost an sich geckauft, oder durch Herrn Sieber aus Paris schon gestochen überkamen haben.“
Mit einem modernen Wort umschrieben, könnte man den Zeitraum von 1777 bis 1790 als Phase der Hochkonjunktur für das Schaffen Haydns in Paris bezeichnen. Mehr als 250 Aufführungen Haydnscher Kompositionen in den berühmten ‚Concerts spirituels‘ sind aktenkundig – eine für die damalige Situation erstaunliche Zahl und Aufführungsfrequenz. Es wundert deshalb nicht, dass drei weitere Symphonien (Hob. I: 90 bis 92) ebenfalls nach Paris adressiert waren. Der Auftraggeber der Pariser Symphonien; der Comte d'Ogny, wünschte neue Musik von Haydn, die für die Konzerte der Freimaurerloge ‚Olympique‘, wo ein gutes Orchester zur Verfügung stand, vorgesehen war. Das Ensemble mit seinen vierzig Geigen, zehn Kontrabässen und genügend Bläserkapazität dürfte Haydn darin bestärkt haben, sich als Kolorist und Klangkombinatoriker keine Fesseln anzulegen. Die C-dur-Symphonie (Nr. 90) – dem Comte d'Ogny übergeben und anschließend an den Fürsten Kraft Ernst von Oettingen-Wallerstein verkauft – enthält interessante thematische Entsprechungen zwischen der Adagio-Einleitung und dem Hauptsatz (Allegro assai), bemerkenswerte Eintrübungen im Andante-Teil und eine harmonisch bestürzende Wendung nach vier Takten Generalpause im Finale, die auch für den erfahrenen Musikfreund von heute noch als Schock empfunden werden kann.
Neben der G-dur-Symphonie Nr. 88 ist die in derselben Tonart notierte Symphonie Nr. 92 die am häufigsten gespielte aus dieser ‚Reihe‘. Die Wirkung von Schwerelosigkeit und Lichte wird hier – durchaus dialektisch – durch kompromisslose, wenn man will: strenge Argumentation erzielt. Effekte ergeben sich aus der Logik der Haydnschen Orchesterdramaturgie, wobei es zu einer Parallele zur G-dur-Symphonie Nr. 88 kommt. Wie im Largo des früher entstandenen Werkes setzt Haydn auch in der Symphonie Nr. 92 Trompeten und Pauken im langsamen Satz (Adagio) ein. Die geläufige Bezeichnung Oxford-Symphonie ist auf den Umstand zurückzuführen, dass Haydn diese Partitur auswählte, als er im Juli 1791 in Oxford zum Ehrendoktor promoviert wurde. Am Vorabend des Festaktes erklang das mit vielen Gelehrtheiten (Kanon, Krebs etc.) gespickte Werk, das Haydn vier Monate zuvor bei seinem ersten Auftreten in einem von Johann Peter Salomon arrangierten Konzert dirigiert hatte.
Peter Cossé