Symphonien 1773-1774

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t1 Konzertführer
Joseph Haydn
Symphonien 1773-1774

1773: Nr. 65, 50, 64
1774: Nr. 55, 56, 54, 57, 60
Wir stehen jetzt vor dem stärksten stilistischen Einschnitt in Haydns Entwicklung als Symphoniker. Ein anderer Weg zum Wiener klassischen Satz macht sich geltend: die ‚opera buffa‘ und die Zwischenaktmusiken zu Schauspielen. Bekanntlich war dieser ‚Umweg‘ des Instrumentalkomponisten Haydn so gewichtig, dass sogar die Produktion von Streichquartetten bis zum Erscheinen der Serie op. 33, dem Beginn der Wiener Klassik im engeren Sinn (gemeinsam mit Mozarts Entführung), stockte. Dafür bot die Komposition von Buffo-Opern das Experiment, die thematischen Charaktere der Symphonien auf äußere Wirkung hin anzulegen, ohne dabei ins Leichtgewichtige oder gar Oberflächliche zu fallen. Die typische Akkordmelodik und eine eher ‚flächige‘ Formanlage sind Kennzeichen des neuen Weges. Ein weiteres genuin theatralisches Moment ist der erstmalige Versuch Haydns, die Symphonie mit einer langsamen, ‚atmosphärischen‘ Einleitung zu versehen, eine Formidee, die ihren Höhepunkt in den späten Londoner Symphonien erreicht. In der Symphonie Nr. 65 A-dur (ebenso wie die kurz darauf komponierte Nr. 64 noch ohne langsame Einleitung) vermutet Robbins Landon eine unbekannte Bühnenmusik, die dann in der Symphonie Nr. 50 C-dur tatsächlich vorliegt: Deren ersten beiden Sätze sind die Ouvertüre zum Prolog der Marionettenoper Philemon und Baucis mit dem eigenen Titel Der Götterrath; die restlichen Sätze wurden später hinzugefügt. Es liegt das erste Beispiel für die symphonischen Pasticcios vor, die Haydn bis etwa 1780 immer wieder komponierte. In der Haydn-Forschung ist es üblich, diese Symphonien mit geringschätzigem Blick zu betrachten, doch gehören sie ebenso zu Haydns Laborieren am Wiener klassischen Satz wie etwa die Symphonie Nr. 64 A-dur, die den Sonderfall eines vom Streichquartett angeregten Satzprinzips darstellt und einen originellen Einblick in Haydns Experimentierfeld gewährt. Der in den originalen Stimmen notierte Titel Tempora mutantur dagegen ist schwer zu erklären; möglicherweise bezieht er sich auf die stilistische Vielfalt der vier Sätze, die vom dichten Quartettsatz des ersten über das ‚redende‘ Prinzip Carl Philipp Emanuel Bachs im zweiten (mit den typischen ausdrucksvollen Pausen und einem abgründigen Schluss) bis hin zur originellen Thematik des Rondo-Finales reicht. In der Symphonie Nr. 55 Es-dur mit dem sogar authentischen Beinamen Der Schulmeister kommt Haydns Humor ins Spiel, namentlich im langsamen Variationensatz mit der bezeichnenden Anweisung Adagio, ma semplicemente, dem im Adagio der Symphonie Nr. 56, dem Höhepunkt der C-d Ur-Symphonien mit Trompeten und Pauken, ein rhapsodisches Gegenstück mit ausdrücklichem Solofagott als „Falstaffsche Verzierung“ (Robbins Landon) folgt. Im Finale (Prestissimo!) tritt dann die brillante Buffo-Motivik hinzu. Und im ersten Satz dieser C-dur-Symphonie klingt auch bereits die Buffo-Welt Mozarts an mit einer Vorwegnahme des Mottos Così fan tutte (!). In der Symphonie Nr. 54 G-dur verlangt Haydn zum ersten Mal die später zur Norm der klassischen Orchesterbesetzung erhobene Wahl des vollen Bläserinstrumentariums (allerdings noch ohne Klarinetten) und schreibt, nach der Symphonie Nr. 50, eine weitere langsame Einleitung, die jedoch von derjenigen zur Symphonie Nr. 57 D-dur noch überboten wird. Dort nämlich gerät sie erst so spannungsvoll und differenziert wie in den späten Symphonien. Beide Finalsätze sind mitreißende Beispiele für Haydns Presto-Humor, der ohne die Erfahrungen mit der ‚opera buffa‘ undenkbar wäre.

Einen kuriosen Fall bildet die sechssätzige Symphonie Nr. 60 C-dur, wiederum ein Pasticcio, und zwar aus der Musik Per la Commedia intitolata il Distratto, einer Bühnenmusik zu der deutschen Übersetzung des Schauspiels Le Distrait von Jean François Regnard also, die der späte Haydn abfällig als „den alten Schmarn“ bezeichnet hat. Dennoch enthält die Partitur eine Fülle von Überraschungen bis hin zum Umstimmen der Violinsaiten, einem Scherz aus der ‚opera buffa‘. Jens Peter Larsen nannte sie eine „Populärmusik mit hohem Niveau“, und in der Tat reicht das stilistische Spektrum von gregorianischen Choral-Zitaten (fünfter Satz) über Volksmelodien bis hin zu zwei unterschiedlichen Finalsätzen (vierter und sechster Satz).
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.