Symphonien 1766-1769

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t1 Konzertführer
Joseph Haydn
Symphonien 1766-1769

1766: Nr. 39
1767: Nr. 35, 59
1768: Nr. 38, 49, 58, 26
1769: Nr. 41, 48
Nach dem Tod Gregorius Joseph Werners am 5. März 1766 wird Haydn erster Kapellmeister. Die neue Luft, die er nun atmen konnte, glaubt man auch in der Symphonie Nr. 39 g-moll zu spüren. Der Tonfall der musikalischen Phase, die im Anschluss an die literarischen Tendenzen um 1770 als ‚Sturm und Drang‘ bezeichnet wird, ergreift zum ersten Mal auch Haydns Musik, wenn auch die zentralen Symphonien dieser Stilrichtung erst in den Jahren 1771 und 1772 komponiert wurden. Der Beginn der Symphonie Nr. 39 jedenfalls schlägt den neuen, ungewohnten Ton sogleich an, ja nimmt sogar in verblüffender Weise Mozarts Streichquintett g-moll KV 516 um rund zwanzig Jahre vorweg. Ein neuartiges Einheitsbewusstsein macht sich im Kopfsatz geltend: Wie in der nachfolgenden Symphonie Nr. 35 B-dur ist die Monothematik nun dadurch sichergestellt, dass zwar ein Seitenthema erscheint, aber eines, das aus dem Hauptthema entwickelt wurde. Ein weiteres einheitsstiftendes Moment ist der durchgehende Achtelpuls des Satzes, eine neue Art nervöser Unruhe, die anzeigt, dass Haydn nun endgültig die Bahnen der früheren ‚galanten‘ Symphonie verlassen wird. Die Mittelsätze der beiden Symphonien Nr. 39 und 35 stehen nicht ganz auf der Höhe der unvergleichlich dicht gearbeiteten Ecksätze; hier liegt für Haydn noch ein weiteres Arbeitsfeld verborgen, das er in den zentralen ‚Sturm-und-Drang‘-Symphonien Anfang der siebziger Jahre angreift. Vorerst befindet er sich im Stadium des ‚Durchbruchs‘, auch biographisch. Er ist nun musikalisch sein eigener Herr.

Die Wahl der Tonart g-moll für die erste Symphonie der erreichten Phase von Freiheit lag natürlich in der Luft, wenn es auch nicht erwiesen ist, ob Haydn die gleichzeitig komponierte Symphonie g-moll op. 6 Nr. 6 von Johann Christian Bach kannte. Aber es kommt auf den Umkreis an; man bedenke, dass kurz darauf der große Wiener Symphoniker und Freund Haydns und Mozarts in späteren Jahren, Johann Baptist Vanhal, ebenfalls eine g-moll-Symphonie komponierte, die ebenso singulär ist wie die anderen Symphonien in dieser Tonart einschließlich der 1773 komponierten Symphonie KV 183 Mozarts. Allen gemeinsam ist der drängende, ja gärende Impetus und der Versuch, statt des ‚Galanten‘ oder ‚Gelehrten‘ (zum Beispiel Kontrapunkt) die neue Empfindsamkeit zum Ausdruck zu bringen. Und es ist immerhin auffällig, dass Haydn, als er 1768 seine letzte Symphonie im Kirchensonatentypus komponierte (Nr. 49 f-moll), auf ältere Satztechnik völlig verzichtete und etwa den Kopfsatz ganz im Stil des ‚Sturm und Drang‘ konzipierte. Das war denn auch das Ende dieses Typus. Und ein letztes Mal, aus äußerem Anlass, griff er auf das archaische Verfahren der Choralbearbeitung in der Symphonie Nr. 26 d-moll zurück. Es handelt sich um eine Symphonie für die Karwoche; die verwendete Choralmelodie entstammt, im ersten Satz übrigens der erste mit der ausdrücklichen Bezeichnung ‚con spirito‘ –, einem gregorianischen Passionsdrama und im zweiten Satz den sogenannten Alphabet-Lamentationen (lncipit lamentatio Jeremiae Prophetae), die dem Christus-Choral in langen Notenwerten aus dem ersten Satz entsprechen (der andere Choral im ersten Satz bezieht sich auf den berichtenden Evangelisten und die Turbae). Die Symphonie ist ein Experiment im speziellen ‚redenden‘ Genre, allerdings unter der Bedingung, dass man die verwendeten Choral-Melodien zu identifizieren versteht.

Ein anderes Experimentierfeld betritt Haydn mit der Symphonie Nr. 59 A-dur, deren Beiname Feuersymphonie auf einen unbekannten Anlass deutet. In einer der Partiturabschriften findet sich der irreführende Vermerk, sie sei als „Zwischenaktmusik“ für eine Schauspielaufführung in Esterháza (das Stück hieß Die Feuersbrunst) geschrieben worden. Tatsächlich aber wurde sie zu diesem Anlass wiederaufgeführt, denn komponiert hat Haydn sie bereits 1767 zu einem uns unbekannten Zweck. Offensichtlich handelt es sich aber um das erste Beispiel einer Theatermusik, was denn auch die eigenartige, originelle Thematik des ersten Satzes erklären würde. Wie wir noch sehen werden, setzt Haydn später, Mitte der siebziger Jahre, diese Tendenz fort, aus Bühnenmusiken Symphonien zu machen. Der hochdramatische Impuls der Symphonie Nr. 59 zeigt immerhin, welche Kräfte die Bühnenmusik der Symphonik Haydns zuführen konnte. Das Finale dieser Symphonie entwirft sogar nichts geringeres als eine Vorstufe zum Finale der Londoner Symphonie Nr. 103 (Beginn mit einem Hornmotto). Aber auch in Nr.59 macht sich das Ungleichgewicht zwischen den Mittel- und den Ecksätzen noch deutlich bemerkbar.

Die erste Symphonie des Jahres 1768 (Nr. 38) ist wieder eine C-dur-Symphonie mit Trompeten und Pauken (die Besetzung ‚a8‘ ist immer noch die Norm, bis Mitte der siebziger Jahre). Im Kopfsatz schreitet Haydn mit der Tendenz zu größeren Formen – der Satz umfasst fast zweihundert Takte! – weiter fort, im langsamen Satz (Andante molto) experimentiert er mit Echowirkungen zwischen erster und zweiter Violine (letztere ist mit Dämpfer besetzt!), und im Finale operiert er mit einer neuen Formidee, dem Zusammenschluss von Sonatensatz, Kontrapunkt und Solokonzertepisoden (Solo-Oboe). Dagegen wirkt die Symphonie Nr. 58 F-dur auf den ersten Blick wie ein Rückfall in eine frühere Phase, doch ist das eine Täuschung. Die individuelle Thematik spricht für das jüngere Stadium der Entwicklung Haydns als Symphoniker; die ‚Beseelung‘ der einzelnen musikalischen Gestalten ist wichtiger als der knappe Zuschnitt der Form. Im Finale überrascht Haydn außerdem mit metrischen Experimenten.

Die beiden Symphonien des Jahres 1769, Nr. 41 C-dur und Nr. 48 C-dur, treiben die Entwicklungsspirale ruckartig voran; beide Kopfsätze sind über zweihundert Takte lang und paradigmatische Sonatensätze, vor allem in Nr. 48, mit ihrer deutlichen Periodengliederung (Vorder- und Nachsatz zu Beginn von Nr. 41 etwa) und Formartikulation (jeder Abschnitt hat seinen eigenen, unverwechselbaren ‚Charakter‘). Das Finale in Nr. 41 ist noch vergleichsweise leicht, aber das Finale der Symphonie Nr. 48 und auch der ausdrücklich innige Adagio-Satz sowie das liebliche Menuett stehen dem Kopfsatz nicht nach. Zum ersten Mal schafft Haydn das innere Gleichgewicht der zyklischen Teile einer Symphonie. Damit ist der Übergang zur Phase der zentralen Symphonien des ‚Sturm und Drang‘ gegeben.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.