Symphonie Nr. 94 G-dur (Mit dem Paukenschlag)

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t1 Konzertführer
Joseph Haydn
Symphonie Nr. 94 G-dur (Mit dem Paukenschlag)

Auch in der für London komponierten Symphonie in G-dur (chronologisch ist es die vierte Londoner), der ein einziger unerwarteter Paukenschlag zu Berühmtheit verhalf, verbindet Haydn experimentellen Geist mit der Sicherheit, der geläuterten Heiterkeit des erfahrenen Symphonikers. Es ist kein Zufall, dass diese Symphonie beim breiten Publikum zu seiner populärsten Komposition überhaupt avancierte, bringt sie doch in kaum noch zu übertreffender Klarheit, Deutlichkeit und Plastizität die Kunst des späten Haydn in pure, von jedem überflüssigen Zierrat befreite musikalische Gestalt: Haydn christlicher Kosmos, seine äußerste kompositorische Ökonomie, eine von höchster Spiritualität erfüllte Körperhaftigkeit des musikalischen Satzes, in dem selbst der Ausdruck, die Geste, objektiven Charakter gewinnt, und nicht zuletzt der diskrete, stets untertreibende Humor eines im Grunde selbstlosen, demütigen Menschen – all dies ist in dieser Symphonie in gesetzmäßiger Klarheit und Ordnung ausgebildet.

Wieder ist dem Kopfsatz eine langsame Einleitung vorangestellt, mit einem ‚klassisch‘ in durchbrochener Arbeit gestalteten Thema, und wieder tastet sich dieses Thema durch allerlei dunkle Gefilde hindurch vor zum lichten Terrain des Vivace assai-Hauptteils, der wiederum von einem unscheinbar wirkenden, sequenzierenden Tanzthema beherrscht wird, aus dem sämtliche weiteren Gedanken des Satzes abgeleitet sind. Im berühmten C-dur-Andante mit dem Paukenschlag, das aus einem sechzehntaktigen Thema und vier Doppelvariationen besteht, hat Haydn die musikalische Philosophie der Wiener Klassik in essentieller, kathartisch gereinigter Form in Töne gesetzt: Der überraschende Fortissimo-Schlag des Orchesters auf ‚leichter‘ Zeit im letzten Takt der Wiederholung des ersten Halbsatzes war nicht nur zur Belustigung des bei langsamen Sätzen zum Einschlafen neigenden englischen Publikums gedacht , sondern er markiert in unmissverständlicher Prägnanz die neugewonnene Freiheit des Subjekts als selbständig handelnde und nicht mehr dienende Instanz. Unvorhergesehene Kräfte greifen ein, spontanes Handeln, der frei agierende Geist bestimmen nun den Verlauf des musikalischen Geschehens. In der Loslösung des Rhythmus vom Metrum, das von nun an als rein geistiges, übergeordnetes Prinzip den Zeitverlauf qualitativ und für alle verbindlich regelt, vollzieht sich musikalisch das freie, aber sittlich verantwortliche Handeln des neuen, von den feudalen Fesseln befreiten Menschen. Ein einziger Paukenschlag auf falscher Zeit genügt Haydn, um diese neue musikalische Philosophie des Handelns, die eigentliche Novität der Wiener Klassik, Wirklichkeit, Klang werden zu lassen. Der wache, aufgeklärte Zuhörer ist nun gefragt, der die Musik als etwas Gegenwärtiges, Wirkliches, hier und jetzt sich Ereignendes begreift, deren weiteren Verlauf er nicht mehr im Voraus berechnen kann. Der britische Musikhumorist Gerard Hoffnung hat in seiner musikalisch intelligenten Parodie dieses Satzes Haydns drastisches Statement nur folgerichtig und grenzüberschreitend weitergedacht und das ästhetische Prinzip der Wiener Klassik durch das Hinzufügen weiterer ‚unvorhersehbarer‘ Ereignisse für uns nur noch deutlicher gemacht.
Attila Csampai

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.