Symphonie Nr. 104 D-dur

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t1 Konzertführer
Joseph Haydn
Symphonie Nr. 104 D-dur

Ob die Erwähnung einer Aufführung der letzten Symphonie Haydns in einem Londoner Benefizkonzert am 4. Mai 1795 im Rahmen der ‚Opera Concerts‘ im King's Theatre, bestätigt durch einen Tagebucheintrag des Komponisten, wirklich die Uraufführung war, steht nicht außer Zweifel; Robbins Landon vermutet vielmehr, dass sie bereits am 13. April zum ersten Mal erklang und bezieht sich auf einen Bericht des Morning Chronicle vom 15.April, in dem es heißt: „Dieser wunderbare Mann enttäuscht uns nie; alle Einfälle seines erfinderischen und leidenschaftlichen Genies wurden selten zuvor von einem Orchester mit mehr Präzision durchgeführt oder von den Zuhörern mit mehr Entzücken aufgenommen, als dies an jenem Abend der Fall war.“ Falls es wirklich die Symphonie Nr. 104 war, die dort erklang, dann dürfte die Schilderung wohl kaum übertrieben sein, denn sie meint Haydns paradigmatischen Fall einer ‚klassischen‘ Symphonie im tiefsten Sinn, von der symmetrischen, hypotaktischen Periodenbildung und kunstvollen Verarbeitungstechnik (etwa: Abspaltung von Motiven aus dem Thema) bis hin zu der unvergleichlichen Klarheit und sinnlich einleuchtenden Erscheinung aller Details und dem ‚sprechenden‘ Charakter des Ganzen. Das beginnt bereits mit der tiefsinnigsten langsamen Einleitung (in d-moll!), die wir von Haydn kennen und die mit ihrem appellartigen Aufruf direkt hin zu Beethoven weist. Die konzentrierte Geste dieses Anfangs entfaltet sich dann in dem strikt monothematisch gehaltenen Allegro-Hauptsatz, einem der klarsten Sonatensätze Haydns überhaupt, wenn man von der Formtheorie des 19. Jahrhunderts absieht. Denn Haydn komponiert hier zum letzten und eindringlichsten Mal seinen Symphoniesatz, der die ‚Reprise‘ sub specie der Ergebnisse, wie sie die ‚Durchführung‘ brachte, dramatisch weitertreibt und sie zugleich als Synthese der gesamten Entwicklung auffasst. Die ‚Reprise‘ ist weder Wiederholung der ‚Exposition‘ noch deren Steigerung, sondern etwas Drittes, Eigenständiges, freilich auf dem Hintergrund der thematischen Abspaltung der Takte 3 und 4 des Themas, die in der ‚Durchführung‘ Gegenstand der musikalischen Gedankenarbeit war. Die Einheit des Grundcharakters ist diesen drei Stufen der thematischen Ausarbeitung letztlich übergeordnet. Erst bei Beethoven wird die Durchführung zum zentralen Kampfplatz erhoben, dessen Voraussetzung der prinzipielle Themendualismus ist. Haydn dagegen denkt noch ganz im Sinne der ‚Klangrede‘ des 18. Jahrhunderts, im Prinzip der ‚Einheit in der Mannigfaltigkeit‘. So besehen stellt gerade die letzte Symphonie einen überaus bedeutsamen Abschluss des symphonischen Schaffens von Haydn dar.

Auch der Andante-Satz ist, bei aller Buntheit der angewendeten Variationsverfahren im Einzelnen, einer ebenso einfachen wie unmittelbar einleuchtenden, übergeordneten Dreiteiligkeit, freilich im Sinne der für solche Sätze vorherrschenden Bogenform, verpflichtet, die denn auch nicht das kompositorisch ‚Besondere‘ bildet, sondern erst die thematische Ausformung im Detail, und die ist überreich genug an Feinheiten. Man höre nur die Vielgestaltigkeit des Mittelteils (in Moll), die variierten Wiederholungen innerhalb der Außenteile und in ihrem Verhältnis zueinander, auch die auffällige musikalische Parenthese, die den Verlauf der Wiederkehr des Rahmenteils gleichsam unterbricht und zugleich transzendiert. Ebenso feinsinnig ist die Gestaltung der Coda, die wie ein wehmütiges Abschiednehmen klingt (Hornquintenmotiv) und in ihrer Zartheit von zwingender Gewalt ist.

Das Menuett ist vielleicht das schönste und reifste Beispiel für Haydns Umdeutung des höfischen Tanzes zum Tonfall des dritten Standes unter dem Gesichtspunkt der kunstvollen Popularität. Es könnte gerade dieses Menuett sein, das der Musiktheoretiker Heinrich Christoph Koch im Jahre 1802 im Auge hatte, als er schrieb: „Zu den mannigfaltigen Formen, in welchen die Menuet anjetzt in den Sinfonien und Sonatenarten erscheint, hat vorzüglich Haydn Gelegenheit gegeben und dazu die Muster geliefert.“
Mit einem ‚Spiritoso‘-Finale nimmt Haydn Abschied von der Gattung, die ihn 35 Jahre lang intensiv beschäftigt hat, und reicht damit Beethoven die Hand, der fünf Jahre später mit seiner ersten Symphonie ein neues Kapitel in der Geschichte zu schreiben anfangen wird. Haydn triumphiert hier noch einmal über alle Unterschiede zwischen ‚galant‘ und ‚gelehrt‘, kunstvoll und einfach, volkstümlich und ‚hoch geschrieben‘ und komponiert auf der Basis einer Volksliedmelodie seiner Heimat (Oj Jelena) seine stets angestrebte Verknüpfung von hohem Kunstanspruch und unmittelbarer Verständlichkeit und schließt mit dem lakonischen Nebeneinanderstellen von musikalischer ‚Frage‘ und ‚Antwort‘ in den letzten Takten, wodurch das eingelöst wird, was die Satzbezeichnung ‚spiritoso‘ verhieß: auf musikalische Weise geistreich und erfinderisch sein. Goethe fasste später die diskrete Schönheit dieser Musik in den Worten zusammen: „Diese seine Werke sind eine ideale Sprache der Wahrheit, in ihren Teilen notwendig zusammenhängend und lebendig. Sie sind vielleicht zu überbieten, aber nicht zu übertreffen.“
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.