Symphonie Nr.101 D-dur (Die Uhr)

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t1 Konzertführer
Joseph Haydn
Symphonie Nr.101 D-dur (Die Uhr)

Am 3. März 1794 führte Haydn in einem Salomon-Konzert seine Symphonie Nr. 101 zum ersten Mal auf. Damals war von dem Titel Die Uhr noch nichts bekannt. Ob er überhaupt von Haydn stammt, ist ungewiss; er taucht zunächst in einer Klavierbearbeitung des Wiener Verlegers Traeg vom Jahre 1798 auf („Rondo...Die Uhr“) und mag sich auf die Flötenuhr beziehen. Wie dem auch sei, entscheidend ist die damit angesprochene Wesensbestimmung, die immerhin auf den rhythmisch-metrischen Lebensnerv des Wiener klassischen Satzes abzielt und im zweiten Satz denn auch ausdrücklich in Erscheinung tritt, freilich nicht als bloße Nachahmung des Tickens einer Uhr, sondern als bewusste musikalische Zeitgestaltung. Das metrische ‚Ticken‘ – ähnlich wie zwanzig Jahre später im zweiten Satz von Beethovens achter Symphonie – wird als die metrische Taktgrundlage eingeführt (erster Takt), über der sich die konkrete, rhythmische Taktausfüllung bewegt. Das Widerspiel dieser beiden kompositorischen Ebenen, von denen die eine bloß gedacht, die andere dagegen materiell in Erscheinung tritt, ist der musikalische Sinn dieses Satzes, der im Übrigen eine Vermischung von Sonatenform und Variationentechnik darstellt. Solche Sätze Haydns mögen das 19.Jahrhundert dazu gebracht haben, ihm den Mangel an ‚Tiefe‘ vorzuwerfen, da der Sinn des zweiten Satzes tatsächlich darin besteht, das erwähnte Wesensmerkmal des Wiener klassischen Satzes zu demonstrieren. Dass es nur darum geht und dennoch nicht oberflächlich gerät, dafür steht jene einzige Generalpause des gesamten Satzes ein, die nicht allein Haydns ökonomischen Umgang mit diesem Mittel unter Beweis stellt, sondern vor allem dem Hörer bewusstmacht, dass hier eine hergestellte Zeitordnung herrscht, keine selbstverständliche. Es ist also keiner jener viel berufenen ‚Witze‘ Haydns, sondern wieder einmal ein Einspruch gegen das zerstreute Hören.

Der erste Satz beginnt mit einer langsamen Einleitung, die Haydns überreiche Phantasie im Erfinden solcher Eröffnungen vorführt: In diesem Fall geht Haydn gleichsam zielstrebig und ‚strategisch‘ vor, verzichtet sowohl auf (harmonische) Umwege oder „Verzögerungsmanöver“ (Charles Rosen), als auch auf Entwicklungen. Stattdessen stellt er drei Prämissen auf, um zur Dominante zu gelangen, und zwar in der Art, dass sie eine Projektion ins Größenverhältnis von zwei- zu dreifacher Proportion ermöglichen; so steigert sich hier die Spannung. Dass die erste Prämisse eine Moll-Variante des späteren Presto-Hauptthemas bringt, steht demgegenüber im Hintergrund, zumal der periodisch geschlossene Bau dieses Themas den Ansätzen der langsamen Einleitung gegenübersteht. Mehr als die anderen Kopfsätze der zweiten Serie der Londoner Symphonien ist dieser monothematisch gehalten und stiftet so einen einheitlichen, impulsiven Bewegungsablauf, der durchaus an eine Ouvertüre (zu einer ‚opera buffa‘ natürlich) erinnert. Immer wieder macht sich auch die langsame Einleitung an retardierenden Momenten geltend, besonders in der Durchführung.

Haydns Menuette sind in den seltensten Fällen höfische Tanzcharaktere; das ist eher Mozarts Sache. Haydn formt sie um zu Tänzen, die dem dritten Stand aufspielen, zu Ländlern, Kontretänzen und Vorformen Beethovenscher Scherzi. Das Menuett der Symphonie Nr.101 ist denn auch ein Ländlercharakter, insbesondere das Trio, dessen Ländlermotiv sich in der hohen Flöte über einem ostinaten Klangteppich der Streicher erhebt und genau die ‚kunstvolle Popularität‘ in der Haltung aufweist, von der die Zeitgenossen so beeindruckt waren.

Im Finale realisiert Haydn, unerschöpflich im Gebrauch neuer Formideen, einen umfangreichen Sonatensatz, den er mit Verfahren der Variation durchsetzt, um so viel wie möglich Abwechslung in den Verlauf hineinzubringen, von Moll-Varianten bis hin zu einem kunstvollen Fugato-Abschnitt. Jeder schematischen Formgebung spottend, verfügt er hier über eine Freiheit des Gestaltens, die ihre höchste Kunstfertigkeit dem Hörer nicht als Exerzitium aufgibt. Nur seine Konzentration ist gefordert.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.