Pariser Symphonien Nr. 82-87

Zurück
t1 Konzertführer
Joseph Haydn
Pariser Symphonien Nr. 82-87

Haydns Pariser Symphonien (Hob. l: 82-87: Nr. 82 C-dur ‚L'Ours‘, Nr. 83 g-moll ‚La Poule‘, Nr. 84 Es-dur, Nr. 85 B-dur ‚La Reine‘, Nr. 86 D-dur und Nr. 87 A-dur) entstanden 1785/86 für die ‚Concerts de la Loge Olympique‘. Wie sehr sie schon damals durch kompositorische Besonderheiten auffielen, beweist unter anderem eine Kritik aus dem Jahre 1788, die versucht, die neuen Eigenschaften der Musik Haydns festzumachen: „In allen Konzerten wurden Symphonien von Herrn Haydn gespielt. Mit jedem Tag wächst das Verständnis und damit die Bewunderung für die Werke dieses großen Genies. Wie gut versteht er sich darauf, einem einzigen Thema die reichsten und verschiedenartigsten Entwicklungen abzugewinnen, im Gegensatz zu den sterilen Komponisten, die dauernd von einem Thema zum andern übergehen, weil sie nicht imstande sind, einen Gedanken in variierter Gestalt darzustellen und deshalb mechanisch und geschmacklos Effekte ohne inneren Zusammenhang anhäufen.“ In der Tat erreicht die Kompositionstechnik Haydns in seinen Pariser Symphonien auf orchestralem Gebiet einen neuen Stand. Bekannt ist Haydns Ankündigung seiner Russischem Streichquartette op. 33 aus dem Jahre 1781. Hier war von einer „neuen, ganz besonderen Art“ die Rede; und wirklich war der Grad der thematischen Verarbeitung im Vergleich zu den vorangegangenen Quartetten auf ganz erstaunliche und bedeutungsschwere Art angewachsen. In den folgenden Jahren suchte Haydn den erreichten Stand auch auf symphonischen Gebiet durchzusetzen. Doch was für heutiges Verständnis recht problemlos wirken mag, bedeutete damals eine eingreifende Verschiebung des Gattungsverständnisses, galt doch das Quartett als Ort des ‚gelehrten Stils‘, die Symphonie jedoch hatte zu repräsentieren und suchte nicht zuletzt wegen ihrer Herkunft von der Opern-Sinfonia einen affektgeladenen, leicht verständlichen Ton einzubringen.

Haydns Pariser Symphonien müssen unter diesen Gesichtspunkten als Experimentieranordnungen für die kompositorischen Prinzipien im Konzertsaal angesehen werden, als Ergebnisse des kompositorisch Machbaren. Haydns schöpferische Verfügungsgewalt über das musikalische Material steht im Vordergrund, nicht ein vorn Publikum erwartetes Klangresultat. Es beweist Haydns Meisterschaft, dass es ihm gelungen ist, beides in höchstem Maße zu erfüllen, dass diese symphonischen Erprobungsstücke von seiner zeitgenössischen Hörerschaft akzeptiert wurden und seinen eigenen kompositorischen Ansprüchen standhielten.
An der klanglichen Oberfläche erscheinen diese Neuerungen in erster Linie als ein Moment der Überraschung, das sicherlich auch Haydns subtilem musikalischen Humor entgegengekommen ist. Die Pariser Symphonien sind vielleicht die heterogensten, die Haydn geschrieben hat. Scharfe Dissonanzen (etwa gleich zu Beginn der g-moll-Symphonie Nr. 83), häufig gekoppelt mit einer Thematik aus gebrochenen Akkorden, die nicht zur Melodiebildung im herkömmlichen Sinn taugen, bestimmen allgemein das Partiturbild. Stets balanciert Haydn ein Gleichgewicht zwischen ‚fremd‘ und ‚vertraut‘ aus, er spielt mit diesen Gegensätzen geradezu. Deutlich setzt er sich so vom zeitgemäßen ‚galanten Stil‘ ab, ja, er zerbricht ihn, indem er auf der Seite der melodischen Erfindung oft nur Minimalbedingungen erfüllt und auf der Seite der Durchführung die gängigen Sequenztechniken weit hinter sich lässt. So wirkt die Musik an manchen Stellen fast verstörend in ihrer Unkonventionalität, ihrer neuartigen Frische, sie schmeichelt sich nicht ein, sondern tritt mit einer spröden Außenseite auf, die sich erst durch die inneren Strukturen erschließt. Es ist gewissermaßen das selbstbewusste Auftreten musikalischer Gestalten, denen die feudalen Komponisten keine Kraft mehr zutrauten und die sich zunehmend mit kompositorischem Zierrat behalfen, wo Haydn auf die Musik an sich setzt. Er stellt ihnen seine revolutionären Gestaltungsmittel entgegen und arbeitet insbesondere die den Motiven innewohnende Dynamik heraus, die dann konstitutiv für den Satz werden kann. Diese Selbstgenügsamkeit, ja Autonomie der musikalischen Entwicklung, die nicht auf einer tragenden Melodie beruht, ist ein Wesenszug Haydnscher Kompositionstechnik. Die Musik bedarf gewissermaßen keiner anderen Stütze als die ihrer eigenen Logik. Sie wird von Haydn aus der barocken Formelhaftigkeit der Figuren befreit und macht sich selbständig. Verblüffend wirken die daraus abgeleiteten Konsequenzen – und gerade hier erweist sich Haydn als der überlegene Komponist seiner Zeit: Bloße Überleitungsfloskeln werden zu Grundgestalten (etwa das Hauptthema der Symphonie Nr. 86, im ersten Satz nach der langsamen Einleitung), die Klangfarben des Orchesters werden strukturbildend eingesetzt (zum Beispiel in der Verselbständigung der Bläser oder auch in der Aufspaltung von Celli und Bässen zu Beginn der Symphonie Nr. 84), die Dynamik dient als Polarisierungsmittel (etwa in der Gegenüberstellung von fortissimo und pianissimo im ersten Satz der Symphonie Nr.82), ja selbst die formale Gestaltung erscheint als Konsequenz der thematischen Anlage (hier sei auf den Capriccio-Satz der Symphonie Nr. 86 verwiesen, der als langsamer Satz in gleichsam phantasierender Fortspinnung als Pendant zu den statuarischen Ecksätzen mit deutlich hervorgehobener D-dur-Charakteristik eingesetzt ist). Vielleicht am deutlichsten, zumindest für das Pariser Publikum der Uraufführung, ist die Dialektik zwischen Motivgestalt und kompositorischem Eingriff im langsamen Satz der Symphonie Nr. 85 dargestellt: Das Thema ‚La gentille et jeune Lisette‘ war allen Hörern wohlvertraut, doch die subtile Führung des Basses oder der differenzierte Bläsersatz (Flöte in der dritten Variation!) veranschaulichen treffend, was Haydn unter kompositorischer Leistung verstand. Gerade der Nachweis von musikalischem ‚Wert‘ durch die Demonstration des frei verfügenden Eingriffs in scheinbar vertraute Gestalten ist ein zentrales Anliegen der Pariser Symphonien. Und so gelingt Haydn eine Musik, die bei allgemeiner Fasslichkeit stets den Eindruck logischer Notwendigkeit in motivischer, rhythmischer und harmonischer Hinsicht in sich birgt. Dessen bewusst konnte Haydn, als ihn Mozart vor seiner ersten London-Reise auf seine mangelnden Sprachkenntnisse hingewiesen hatte, souverän erwidern: „Meine Sprache verstehet man durch die ganze Welt.“
Reinhard Schulz

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.