Violinkonzert D-dur op. 77

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t1 Konzertführer
Johannes Brahms
Violinkonzert D-dur op. 77

Das Violinkonzert D-dur op. 77 von Johannes Brahms darf mit Recht als "das" Violinkonzert in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bezeichnet werden. Es entstand 1878 in Pörtschach am Wörthersee, wo Brahms mehrere Jahre seinen Sommerurlaub verbrachte. Uraufgeführt wurde es am 1.Januar 1879 von dem berühmten Geiger und Freund des Komponisten Joseph Joachim. Schon bald danach wurde das Werk als ‚Konzert gegen die Violine‘ apostrophiert, ein Vorwurf, der sich auf ‚ungeigerische‘ Abschnitte im Violinpart, vor allem aber auf den unvirtuosen Charakter des Konzerts bezog, der dem Solisten nicht genügend Freiraum zum effektvollen Brillieren gab. In der Tat stellte sich Brahms mit der Konzeption seines Violinkonzerts demonstrativ gegen eine Tradition, wie sie im 19. Jahrhundert von Paganini bis Sarasate nahezu selbstverständlich war und den Solisten in den Vordergrund rückte. Brahms hingegen verstand das Konzertprinzip als ein wesentlich symphonisches. Hierin unterscheidet er sich auch vom augenscheinlichen und oft genannten Vorbild, dem Violinkonzert Beethovens, bei dem der Dialog zwischen Solist und Orchester als ein Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft aufgefasst wurde. Brahms hingegen sucht den Ausgleich zwischen dem Anteil des Orchesters und des Solisten: beide ergänzen sich und steigern sich so gegenseitig in ihrer Wirkung.

Zwar stellte Brahms die traditionelle Großform eines Konzerts, namentlich die Dreisätzigkeit mit der Folge schnell-langsam-schnell, nicht in Frage. Gleichwohl weist die konstruktive Anlage des Werkes einige kühne Neuerungen auf, versuchte doch Brahms die herkömmlichen Normen auf neue Art auszufüllen. Schon die Exposition des ersten Satzes gehorcht nicht mehr den Gesetzen einer zweimaligen Themenaufstellung durch Tutti und Solo – wie sie freilich schon im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend aufgegeben wurde –, der Einsatz der Violine reagiert vielmehr auf den bisherigen Verlauf des Satzes, der vom abgeklärten Dreiklangsthema des Beginns schließlich zu einer trotzig punktierten Moll-Gestalt geführt hatte. Als Folge dieser Entwicklung steht der erste Einsatz des Soloinstruments nun gleichfalls in Moll, von Bruchstücken des scharf punktierten Themas begleitet. Schon hier wird Brahms‘ grundsätzliche Kompositionsidee deutlich: durch variative Arbeit mit dem aufgestellten thematischen Material eine Vermittlung zwischen den einzelnen Abschnitten zu schaffen. Der Charakter des Verbindlichen, der dieses Konzert auszeichnet, ist und dies unterscheidet Brahms von den meisten seiner Zeitgenossen – nicht ‚erfunden‘, sondern durch den musikalischen Ablauf selbst erzeugt. Die verschiedenen Gestalten gewinnen durch ihre gegenseitige Vermittlung an Selbstverständlichkeit, die Musik ruht gleichsam in sich selbst und erzeugt dadurch den Eindruck gelöster Stimmigkeit. Dieses Verhältnis bestimmt auch das Gegenüber von Solovioline und Orchester. Wenn Pablo de Sarasate es damals als Zumutung verstand, im Adagio „mit der Geige in der Hand zuzuhören, wie die Oboe dem Publikum die einzige Melodie des ganzen Stücks vorspielt“, so traf er genau den entscheidenden Punkt, ohne aber Brahms‘ kompositorisches Prinzip zu begreifen. Dieses zählte auf Integration, nicht auf Demonstration – bis hin zum Schluss des Konzerts, das ruhig ausläuft, anstatt zu einem prunkenden Finale anzuheben.
Reinhard Schulz

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.