Symphonie Nr. 1 c-moll op. 68

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t1 Konzertführer
Johannes Brahms
Symphonie Nr. 1 c-moll op. 68

Noch immer geistert das Wort von der ‚Zehnten Beethoven‘ durch die Rezeption der ersten Symphonie von Johannes Brahms. Bereits der Komponist selbst reagierte verärgert auf diese ebenso unüberlegte wie gefährliche Äußerung Hans von Bülows, der aus diesem Werk nichts weiter herauslas, als dessen Abhängigkeit vom großen Klassiker und eine Kontinuität der symphonischen Tradition schlechthin. Dabei war sich Brahms – neben dem Sonderfall Bruckner – wie kein anderer bewusst, dass die symphonische Idee sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur dann als tragfähig erweisen würde, wenn es gelänge, ohne den formalen Kanon zu sprengen, die Gattung als Gegenentwurf zu Beethoven neu zu etablieren. Schon zur Zeit der frühen Orchester-Serenaden äußerte er sich in diesem Sinn, als er meinte, wenn man es wage, nach Beethoven Symphonien zu schreiben, so müssten diese ganz anders aussehen. Genau zwanzig Jahre benötigte Brahms, bis er Schumanns überschwängliche Prophetie (Neue Bahnen, 1856) einzulösen vermochte; zwanzig Jahre quälenden Experimentierens und Verwerfens. Das schließlich als Opus 15 publizierte Klavierkonzert gibt davon beredtes Zeugnis. Ausgehend von einer Sonate für zwei Klaviere sollte das d-moll-Werk seine erste Symphonie werden. „Ich habe keine Gewalt mehr über das Stück, es wird nie etwas Gescheites daraus“, resignierte er schließlich und arbeitet es zum Solokonzert um. Das gestrichene Scherzo verwendet er als zweiten Satz des Deutschen Requiems, das Finale wurde gänzlich neu konzipiert. Brahms sah sich als Gescheiterten in Sachen Symphonie. Auf zwei verschiedenen Ebenen näherte er sich dann dem symphonischen Ziel. Da waren zum einen die Chorwerke, die die Gewichtigkeit der Einzelstimme als Linienführung im Gesamtkontext erproben sollten, zum anderen Kammermusikwerke, die Sextette, Trios, Klavier- und schließlich Streichquartette (op. 51), die die viersätzige Form strukturell beherrschbar machen sollten. Als Dreiundvierzigjähriger dann legte er 1876 seine erste Symphonie vor, die jetzt tatsächlich einen veritablen Gegenentwurf zu den klassischen Vorbildern darstellte.

Der viersätzige symphonische Kanon stellt sich seine eigenen Gewichte auf. Beethovens Konzeption der Steigerungen, die das Finale zum Höhepunkt erklären, war nicht zu überbieten. Es konnte nur aufgefangen werden durch eine andere kompositorische Struktur, aus der dann wie selbstverständlich der Kopfsatz zum Zentrum wird, zumindest aber der begründete Gegenpol zum Finale. Exemplarisch lässt sich dies an der c-moll-Symphonie zeigen. Die ersten Takte des Kopfsatzes (die sostenuto-Einleitung, die in Wahrheit keine ist) bergen keimhaft das gesamte thematische Material in sich, ohne selbst thematische Gestalt anzunehmen. Zwei chromatisch gefärbte Linienzüge, die aufwärtsstrebenden Stimmen von Violinen und Celli sowie die gegenläufigen in den Holzbläsern, organisieren sich mit dem Orgelpunkt der Pauken und Bässe zum dreistimmigen kontrapunktischen Geflecht. Nach acht Takten des scheinbaren ‚Sich-Verströmens‘ setzt mit den Intervallen der kleinen Sept, die wie eine Überleitung wirken, eine zweite Realität ein. Aus diesem rudimentären Material wird der gesamte Kopfsatz – und nicht nur er – als wachsender Organismus gebaut. Das eigentliche Hauptthema des Allegros (ab Takt 40) stellt damit nur noch eine Ableitung, ein „sekundäres kontrapunktisches Kunstprodukt“ (Kretzschmar) dar. Diese Idee symphonischer Entwicklung definiert durch sich selbst die Exposition, also das Aufstellen kompakter Thematik im Wiener klassischen Sinn, nun als Quasi-Durchführung. (Damit ist Brahms weit weniger von Bruckners Thematik ‚aus dem Nichts‘ entfernt, als die Wagnerianer wahrhaben wollen.) Die Durchführung selbst wird nun eher peripher, ja, sie tendiert sogar zu geschlossenen melodischen Gestalten.

Die Kernsubstanz der Einleitung strahlt auf die beiden Mittelsätze. Der zweite Satz, der wie Beethovens c-moll- Klavierkonzert in E-dur steht, weist schon in Takt 5 die chromatische Gegenläufigkeit auf; das Poco Allegretto dann speist daraus seine gesamte thematische Substanz, und selbst in der langsamen Einleitung zum Finale ist sie konkret greifbar. Dann aber geschieht Ungeheuerliches. Dieser Finalsatz zentriert den Gedanken des Gegenentwurfs auf das Werk selbst; er verhält sich gleichsam antithetisch zum Kopfsatz. Was dort nämlich abstrakte Struktur war, wird jetzt vermenschlicht; ein Ereignis, das in mehreren Etappen verwirklicht wird. Nach der pizzicato durchsetzten Einleitung zum Finalsatz erklingt ein Hornmotiv (Takt 30ft), das konkret auf einer Alphornmelodie basiert, als erste frei einsetzende, melodisch geschlossene Gestalt des Werkes. Ebenso wie der eingeschobene Choralpartikel (Takte 47 bis 50) ist sie nicht als variatives Element ableitbar. Dann, ab Takt 62, setzt jener Streicherhymnus ein, dessen Analogie zum Finale der Neunten so oft kritisch vermerkt wurde. Aber hier geht es um anderes. Hornruf, Choral und Hymnus sind Bilder von Natur und dem darin eingebetteten und gleichwohl selbsttätigen Menschen. Gegenüber den komplexen Strukturen des Kopfsatzes stehen sie als Befreiung der Musik selbst; nicht im Beethovenschen Sinn einer philosophischen Überwindung, sondern als kompositorische Realität für sich. Zwischen erstem und letztem Satz ergibt sich kein Gefälle, weder nach oben noch nach unten. Brahms verweigert den moralischen Appell, die tragödische Steigerung. Er konstatiert, er stellt zwei Welten als eigenständigen instrumentalen Entwurf gegenüber: die kompositorische, gleichsam abstrakte Struktur des Kopfsatzes und die warm atmende melodische Geschlossenheit im Finale. Beide können gegeneinander bestehen.
Bernhard Rzehulka

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.