Die Komponistengruppe ‚Les Six‘ und Umfeld

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t1 Konzertführer
Darius Milhaud, Francis Poulenc, Georges Auric, André Jolivet, Jean Françaix
Die Komponistengruppe ‚Les Six‘ und Umfeld

Louis Durey (1888-1979), Germaine Tailleferre (1892-1983), Francis Poulenc (1899-1963), Georges Auric (1899-1983), Darius Milhaud (1892-1974), André Jolivet (1905-1974), Jean Françaix (geb. 1912-1997)

„Ich wünsche mir von Frankreich französische Musik“ – diesen Satz schrieb Jean Cocteau, der geistreiche Dichter und vielseitig-rührige Künstler 1918 in seiner programmatischen Schrift Le Coq et l'Arlequin. Er forderte eine nationale Rekreation der Tonkunst aus dem Geiste der Klarheit. Damit wurde er unversehens zum Programmatiker und Sprachrohr einer ganzen Komponistengeneration, die sowohl impressionistischer Klangnebel und pointillistischer Stimmungsbilder als auch jeglichem metaphysischen Tiefsinns germanischer Provenienz überdrüssig geworden war. Wagner und seinen Epigonen wurde der Kampf angesagt; Debussy war passé. Ein Freundeskreis lose verbundener Komponisten, die ‚Groupe de Six‘ (Darius Milhaud, Arthur Honegger, Georges Auric, Francis Poulenc, Louis Durey, Germaine Tailleferre), und andere Musiker aus dem geistigen Umfeld orientierten sich an klassizistischen Postulaten: Gemäß der echten, aber verschütteten französischen Tradition sollte in der Musik wieder ein Gleichgewicht von Vernunft und Gefühl, jeder Emphase abhold, Vorrang haben. Die charakteristischen Ausdrucksmittel der Romantik – wuchernde Formen, chromatische Stimmführung und Harmonik – gehörten nunmehr ersetzt durch nüchterne Diatonik, maßvoll-klare Satzarchitektur und festen Strich der melodischen Zeichnung. Fortan galten als Leitbilder die Linearität Bach‘scher und Rameau‘scher Musik, rhythmisch-eruptive Primitivismen, wie sie Strawinsky in seinem Sacre du printemps vorgeführt hatte, die ironische Anspruchslosigkeit eines Erik Satie, schließlich Zirkusmusik, Varietémusik und – nicht zuletzt – der Jazz. Mehr als nur vordergründig fanden gewisse Momente des Jazz Eingang in die artifizielle Musik der zwanziger Jahre, bildete doch seine gleichförmig durchgehaltene rhythmische Spannung ein Analogon zum federnden Impulsfluss der Barockmusik. Auch die Bedeutung des Schlagzeugs fügte sich zum allenthalben virulenten Emanzipationsprozess‘ des Geräuschs. Schließlich wurde die Dominanz der Bläser im Jazz und die perkussive Art, das Klavier zu traktieren, stilbildend für die Musik des französischen Neoklassizismus. Wie alles ‚Sublime‘ bekämpft und einer intendierten „simplicité“ (Cocteau) gewichen war, so hatte man auch den Erhabenheitsanspruch bestimmter Gattungen (wie Symphonie, Streichquartett oder Sonate) einer nachhaltigen Revision unterzogen und pflegte zuweilen spontan-heitere Erfindungen. Jeder seinem Naturell gemäß, schrieben die einzelnen Komponisten der ‚Six‘ einen eigenen Stil, der sich im Laufe der späteren Jahre immer weiter individualisierte. Es entstanden jedoch einige Kollektivkompositionen, deren bekannteste das Ballett Les Mariées de La Tour Eiffel (1921), angeregt von Cocteau, sein dürfte.
Einer der wenigen älteren Komponisten, die sich nach dem Ersten Weltkrieg den neuen Tendenzen der französischen Musik nicht verschlossen haben, ist Albert Roussel (1869-1937). Der Schüler D‘Indys fühlte sich nie einer Schule oder Gruppe verpflichtet. Er schrieb einen ausgeprägt eigenständigen, zuweilen hitzig-erregten und herben Stil. Polyphonie und Zeichnung waren ihm stets wichtiger als Klang und Farbe. Zusammen mit Satie, Auric und Honegger gründete Louis Durey (1888-1979) im Jahre 1918 die Vereinigung der ‚Nouveaux Jeunes‘, aus der dann zwei Jahre später die ‚Groupe de Six‘ hervorgehen sollte.

Neben Arthur Honegger der bedeutendste Komponist der ‚Six‘ ist zweifellos sein Altersgenosse Darius Milhaud (1892-1974). Der Südfranzose studierte am Pariser Conservatoire unter anderem bei Paul Dukas und Charles Marie Widor. Nach einer diplomatischen Tätigkeit in Rio de Janeiro, die ihm der Dichter Paul Claudel vermittelt hatte, schloss er sich, 1918 in Paris zurück, dem Kreis um Cocteau an. 1940 emigrierte er in die USA. Darius Milhaud arbeitete mit einer souveränen Leichtigkeit. Handwerk war ihm Virtuosität. Scheinbar ohne Mühe schuf er ein riesenhaftes Oeuvre. Von allen Komponisten seiner Gruppe lieferte er sich am nachhaltigsten den Einflüssen des Jazz und der lateinamerikanischen Folklore aus. Der Titel seiner Cinéma-Fantasie Le bœuf sur le toit (1919) geht auf ein populäres brasilianisches Lied zurück. Tangos, Sambas und andere rhythmisch pointierte Tänze des Karnevals von Rio sind packend verarbeitet und problemlos fasslich, weil ihr einfacher harmonischer Hintergrund beibehalten wurde. Dass Milhaud sein von ihm besonders kultiviertes Stilmittel der Polytonalität hier geradezu exemplarisch einsetzt, erhöht den exotischen Reiz der Partitur. Die fünfteilige Ballettmusik La création du monde (1923) beruht auf afrikanischen Mythen. Jazzinstrumentation und ausgeprägte Schlagzeugpartien sind die Mittel, um „ein rein archaisches Gefühl zu vermitteln“. Wie alle Kompositionen Milhauds sind auch seine sechs symphonischen Miniaturen (1917 bis 1923) für verschiedene Besetzungen, deren keine länger als sechs Minuten dauert, von heiterer mediterraner Stimmung durchdrungen. Selten finden sich düstere Töne. Über zwanzig Konzerte für Soloinstrumente und Orchester, dreizehn große Symphonien und viele andere Werke zeugen vom unerschöpflichen Ideenreichtum des Franzosen. Zur Einhundert-Jahr-Feier der Revolution von 1848 schrieb er seine vierte Symphonie. Ihr zweiter Satz gilt „Den Toten der Republik“, das Finale, das Themen des ersten Satzes wiederaufnimmt, schildert – durchaus auch gegenwartsbezogen – „Die Freuden der wiedererreichten Republik“.

Obwohl Mitglied der ‚Groupe de Six‘, löste sich Germaine Tailleferre (1892-1983) in ihrem musikalischen Empfinden nie ganz von der Klangsprache des Impressionismus. Sie schrieb einen frischen, phantasiereichen, durchaus femininen Stil, dem Fauré und Ravel, aber auch Domenico Scarlatti Pate gestanden haben könnten. Von ihren Opern, den Orchester- und Konzertstücken ist außerhalb Frankreichs nichts richtig bekannt geworden. Bevor er sich dem Neoklassizismus zuwandte, schrieb auch Francis Poulenc (1899-1963) impressionistisch orientierte Stücke. Als typischer ‚musicien français‘ gelang ihm dann eine geistreich-elegante weltliche Musik, die auf jegliche Schnörkel verzichtet. Ihre lyrische und sehr humorvolle Natur kommt in den kleinen Formen zu besonders klarem Ausdruck. Sein reizvolles Concert champêtre für Cembalo und Orchester (1927/28) erfreut sich auch heute noch großer Beliebtheit. Ebenso das Concerto choréographique Aubade (Morgenständchen) für Klavier und 18 Instrumente (1929). Mit süffisantem Humor sind hier Szenen aus dem Leben Dianas, der Göttin der Jagd, beschrieben. Nach 1935 schrieb Poulenc vermehrt sakrale Musik, die eine innige Vertrautheit mit den Kompositionsverfahren der franko-flämischen Meister des 16. Jahrhunderts bezeugt. Neben der Seele des Lausbuben wohnte – wie ein Kritiker trefflich geschrieben hat – auch die Seele des Mönchs in Francis Poulenc.

Sein Altersgenosse Georges Auric (1899-1983) wird mit seinem dissonanzreichen, lebendigen Stil seit der Mitte der zwanziger Jahre zu Frankreichs gefragtestem Filmkomponisten (La Belle et La Bête, 1946). Der Schüler D‘lndys hat die Prinzipien der ‚Six‘ in seinen frühen Balletten Les fâcheux (1924) und Les Matelots (1925) verfolgt. Später fand er zu einer eher expressionistisch geprägten Schreibweise.
André Jolivet (1905-1974) ist neben Olivier Messiaen der bedeutendste Repräsentant der Komponistengruppe ‚Le jeune France‘, die sich 1936 zusammengefunden hat und sich anschickte, den Neoklassizismus zu überwinden. Bei Paul Le Flem erwarb er die handwerkliche Meisterschaft und bei Edgar Varèse, seinem radikalen Lehrer, den Impuls zur eigenen musikalischen Vision. Jolivets Musik ist durchwoben von einer mystisch-kosmisch ausgerichteten Geistigkeit, die teils durch magisch-rituelle Formeln, teils durch exotische Instrumente und Klangkombinationen zum Ausdruck kommen soll. Wichtig im umfangreichen Werk des Komponisten ist sein Konzert für Ondes Martenot und Orchester (1947), ferner seine Ballettmusiken, Solokonzerte und die drei Symphonien.
Weniger tiefschürfend, sondern anmutig und originell gibt sich die musikalische Handschrift von Jean Françaix (geb. 1912). Viele seiner Kompositionen aller Gattungen sind verspielt, agil und von typisch gallischem Esprit beseelt. Zwanzigjährig schrieb der Schüler Nadja Boulangers sein auch heute noch aufgeführtes Concertino für Klavier und Orchester. Unbefangenheit und virtuose Meisterschaft der Schreibweise zeichnet alle seine problemlos verständlichen Orchester- und Kammermusikstücke aus. Jean Cocteaus Wunsch nach französischer Musik wurde nicht zuletzt von Jean Françaix beispielhaft erfüllt.
Helmut Rohm

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.