Sinfonia und Concerto

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t1 Konzertführer
Johann Sebastian Bach, Giovanni Gabrieli, Jan Dismas Zelenka
Sinfonia und Concerto

„Wie dann auch vor unserer Zeit (welchs aber nunmehr abkommen) das Wort Symphonia oder Symphoney gebraucht worden: Wenn man den Haussmann oder Stadtpfeiffer mit seiner gantzen Symphoney, das ist mit allerhand Instrumenten, als Zincken, Posaunen, Trommeten, Geygen, Flöiten, Krumbhörnern, Dolcianen etc. hat fordern lassen.“ Diese Verwendung des Wortes ‚Symphonia‘ zur Bezeichnung eines Instrumentalensembles und seiner Darbietungen, die Michael Praetorius 1618 in seinem Syntagma musicum erwähnt, dürfte ins frühe 16. Jahrhundert zurückgehen. Einige Jahrzehnte später taucht der Begriff erstmals auch als Werktitel auf, wobei man zunächst allerdings keinen Unterschied zwischen Vokal- und Instrumentalkompositionen machte; in diesem Sinne wird die Bezeichnung auch noch in den Symphoniae sacrae der Venezianer Andrea und Giovanni Gabrieli (1597 und 1615) und in den drei Sammlungen gleichen Namens von Heinrich Schütz (1629, 1647 und 1650) verwendet. Andererseits war man schon im frühen 17. Jahrhundert in Italien dazu übergegangen, das Wort ‚Sinfonia‘ zur Bestimmung rein instrumentaler Kompositionen zu verwenden, etwa in den Sinfonie a 8v. Comodi per concertare con ogni sorte de stromenti Giovanni Gastoldis (1604).

Zur Bezeichnung der instrumentalen Vor- und Zwischenspiele größerer geistlicher oder weltlicher Vokalwerke (Opern, Oratorien, Kantaten etc.) bürgerte sich der Terminus ‚Sinfonia‘ bald ein und behielt diese Bedeutung bis weit ins 18. Jahrhundert hinein bei, zum Beispiel in den Sinfonie avanti l'opere Vivaldis oder in den Sinfonien der Kantaten Johann Sebastian Bachs. Daneben kursierten freilich weiterhin verschiedene andere Bezeichnungen – ‚Concerto‘ und ‚Sonata‘(a quattro oder a cinque), ‚Ritornello‘, ‚Ripieno‘, ‚Perfidia‘ –, die von der ‚Sinfonia‘ weder der Form noch der Funktion nach deutlich abgesetzt waren. Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts kristallisierten sich – wiederum zunächst in Italien – einzelne Gattungen heraus, die terminologisch unterschieden wurden. Aus dieser Zeit stammt auch die Unterscheidung ‚da chiesa‘ (für Werke im strengen, kontrapunktisch bestimmten ‚Kirchenstil‘) und ‚da camera‘ (für Werke im freien, melodiebetonten ‚weltlichen‘ Stil); die ‚da chiesa‘-Kompositionen erstarrten bald in einer festgefügten viersätzigen Form (langsam-schnell-langsam-schnell), während der ‚da camera‘-Typus mit seiner Vorliebe für Tanzsätze sowohl das dreisätzige Modell (schnell-langsam-schnell) der von Alessandro Scarlatti ausgeprägten neapolitanischen Opern-‚Sinfonia‘ (Ouvertüre) bestimmte als auch die Formen der Sonate, des Concertos (dreisätzig) und der Suite (mehrsätzig). Dennoch blieben diese Gattungsbezeichnungen weitgehend unbestimmt: Das italienische Concerto grosso etwa, mit seiner Gegenüberstellung eines Orchestertuttis (-ripienos, -ritornells) und einer Gruppe solistischer Instrumente (Solo, Concertino), wurde in Deutschland oft einfach als ‚Konzert‘ tituliert und damit der Form des Solokonzerts gleichgestellt; Bachs Brandenburgischen Konzerte sind tatsächlich Concerti grossi. Aber ob nun Sonata, Sinfonia, Concerto oder Concerto grosso – die ersten Impulse einer Verselbständigung und Formgebung der Orchestermusik gingen um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert von Italien aus, von Komponisten wie Tommaso Albinoni, Arcangelo Corelli, Alessandro Stradella und Giuseppe Torelli. (Um dieselbe Zeit finden sich zwar auch in England entsprechende Entwicklungen, so in den Symphonies verschiedener Anthems Henry Purcells, doch sie blieben für die kontinentaleuropäische Musik ohne Nachwirkungen.) Grundzug dieser Werke, die in Deutschland schnell nachgeahmt wurden, war der kontrastreiche Wechsel unterschiedlicher musikalischer Ereignisse, wie ihn schon die Gabrielis und andere Meister der frühen venezianischen Doppelchörigkeit gepflegt hatten; „dann durch scharffes Beobachten dieser opposition oder Gegenhaltung der langsamb- und geschwindigkeit, der Stärke, und Stille; der Völle des großen Chors, und der Zärtlichkeit des Terzetl, gleich wird das Gehör in ein absonderliche Verwunderung verzuckt“ (Georg Muffat). Aus diesem Prinzip der „opposition“ ging notwendig die Reduzierung des Concertinos auf ein einzelnes Soloinstrument hervor – die Form des Soloconcertos, die durch Torelli und Vivaldi ausgeprägt wurde und mit der Zeit die Form des Concerto grosso verdrängte. Die heute gängige ‚historische‘ Aufführungspraxis solcher Werke in kleiner Besetzung ist übrigens nur bedingt authentisch; Aufführungen der Concerti grossi Corellis, Torellis und Vivaldis mit einem Orchester aus fünfzig, siebzig oder sogar über hundert Musikern waren durchaus keine Ausnahme.

Die Entwicklung der Instrumentalmusik des 18. Jahrhunderts ging Hand in Hand mit dem Aufblühen der Virtuosität; die Solopartien wurden immer anspruchsvoller und diffiziler, die Orchestertechnik immer perfekter. Auf immer neue Weise versuchten die Komponisten, ihr Publikum in den Bann zu schlagen: programmatische Concerti con titoli, überraschende, ‚bizarre‘ Harmonien, Annäherungen an die Vokalpraxis der Oper und raffinierte Instrumentationseffekte lösen die kontrapunktische Strenge des ‚da chiesa‘-Stils mehr und mehr auf und führen allmählich zu einer fast manieristischen Mischung aus Empfindsamkeit und Virtuosität, die den Keim des Rokoko bereits in sich trägt. Sicherlich ist Antonio Vivaldi der ‚maestro assoluto‘ dieser Blütezeit des barocken Concertos in Italien, und die Wirkung seiner Werke lässt sich in Dresden (Johann Georg Pisendel), Leipzig (Johann Sebastian Bach) und Berlin (Johann Joachim Quantz) ebenso nachweisen wie in Böhmen (Franz Benda) oder in Frankreich (Michel Corrette); auch Jan Dismas Zelenka, der in den letzten Jahren eine verdient große Renaissance erlebt hat, steht mit seinen exzentrischen Capriccios und Werken wie der Hipocondrie a 7 concertanti in der unmittelbaren Nachfolge Vivaldis. Neben Vivaldi haben aber auch eine Reihe anderer Komponisten Beachtung verdient: Evaristo Felice Dall’Abaco, Francesco Geminiani, Pietro Locatelli oder die Brüder Alessandro und Benedetto Marcello.

Im Windschatten des italienischen Barock blühten Sinfonia und Concerto auch in Deutschland und Österreich auf, wenngleich man sich hier nur schwer von der kontrapunktischen Strenge lösen konnte. Mehr noch: Für einen Komponisten wie Johann Joseph Fux war die „licentiose Schreibarth“ der Italiener ein Greuel, und er hielt über die Geschmackswende seiner Zeit am ‚stile osservato‘ fest, und auch Johann Sebastian Bach musste sich für die ‚italianita‘ seiner Konzerte manche Kritik gefallen lassen. So kommt es, dass die italienische Musik bereits mit großen Schritten dem ‚galanten Stil‘ des Rokoko entgegenstrebte, als man in Deutschland und Österreich noch am ‚da chiesa‘-Stil Corellis hing. Dieses Spannungsfeld löste sich erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – zum einen durch Georg Philipp Telemann, an dessen umfangreichen Instrumentalwerk sich die Entwicklung vom Barock zur Frühklassik exemplarisch nachvollziehen lässt, zum anderen durch das Wirken der Bach-Söhne in London, Hamburg, Berlin und Mailand. Angesichts dieses Misstrauens der deutschen gegenüber der italienischen Musik ist es auch nicht weiter erstaunlich, dass der italienischste der deutschen Komponisten, Georg Friedrich Händel, sich nach England wandte und dort maßgeblich auf eine Tradition einwirkte, die sich seit Purcell zunehmend dem italienischen Geschmacksideal angenähert hatte.

Auch in Frankreich schwelte seit dem frühen 17. Jahrhundert ein Streit zwischen melodischer Freiheit und kontrapunktischer Strenge, deutlicher noch als in Italien in die Funktionsbereiche der weltlichen und der kirchlichen Musik geteilt. Doch während in Deutschland und Österreich diese beiden Stilausprägungen unvereinbar schienen, hatte die französische Musik schon relativ früh zu Mischformen – zum Beispiel die auch von Bach und Telemann gepflegte ‚französische Ouvertüre‘ –, in denen beide Richtungen zu ihrem Recht kamen. Die Concerts François Couperin oder die Symphonies Jean-Féry Rebels wachsen in die Blütezeit der französischen Orchestermusik hinein, die 1725 mit der Gründung des ‚Concert spirituel‘ durch Anne-Danican Philidor einsetzt.

Mit seinen beiden Grundströmungen ‚stile osservato‘ (‚da chiesa‘) und ‚stile nuovo‘ (‚da camera‘) ist der musikalische Barock in ganz Europa eine mehr oder weniger einheitliche Stilrichtung. Das Aufblühen des Verlagswesens (mit seinen Zentren Amsterdam und Venedig) führte dazu, dass neue Werke binnen kürzester Zeit überall Verbreitung fanden, und eine Vielzahl bedeutender, mittelbarer oder unmittelbarer Schüler /Lehrer-Verbindungen spannten über Europa ein dichtes Netz wechselseitiger Einflüsse. So wie die Renaissance die Entwicklung der Vokalmusik vehement vorangetrieben hatte, so nahm in den rund anderthalb Jahrhunderten zwischen dem Ende des Dreißigjährigen Krieges und der Französischen Revolution die Orchestermusik ihren Aufschwung – Ausdruck einer neuen Zeit und einer neuen Ästhetik, die auf der Suche nach der Vereinbarkeit von Freiheit und Strenge, von Einfachheit und Erhabenheit, von Natürlichkeit und Künstlichkeit, von Spiel und Ernst der Ausformung des ‚klassischen‘ ldeals entgegenstrebt. „Le grand facile“, das „großartig Einfache“, wie es François Fenelon postuliert hat, ist auch in der Musik der Schlüsselbegriff des Barock.
Michael Stegemann

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.