Seine Markus-Kantate für Tenor und Bariton solo, gemischten Chor und Orchester mit Orgel Ad honorem Sancti Marci nominis komponierte Strawinsky 1955 auf lateinische Texte des Alten und Neuen Testaments (Markus-Evangelium, Hohes Lied ,Psalmen). Sie ist eine Huldigung an die Stadt Venedig, den Markusdom und seinen Patriarchen und wurde am 13. September 1956 im Markusdom unter Leitung des Komponisten uraufgeführt.
In keinem Werk Strawinskys sind Kornpositionsaufbau und Gebäudestruktur so eng miteinander verflochten. Entsprechend den fünf Kuppeln des Markusdoms ist das Canticum Sacrum fünfteilig angelegt; die einleitende Dedicatio entspricht architektonisch dem Porticus. Erster und letzter Satz handeln vom apostolischen Verkündigungsauftrag, sind für Chor und Orchester gesetzt und entsprechen der Ost- und Westapsis. Solistisch angelegt sind der zweite und vierte Teil (östliches und westliches Zwischenjoch), während der zentrale dritte Teil (gemäß der dreigeteilten Vierung des Markusdoms) in sich wiederum drei Teile (Preisung der christlichen Tugenden Caritas, Spes und Fides) aufweist. Hervorstechende Merkmale der Komposition sind ihre eigentümlich archaisierende modale Tonalität und Bitonalität in den Anfangssteilen; die zerbrechliche, an Webern orientierte Instrumentation im zwölftönig angelegten zweiten; die Legierung der drei Innensatzteile mittels instrumentaler Zwischenspiele ; ferner die echoisierenden Chorabschnitte sowie das zur besten Vokalmusik Strawinskys zählende Baritonsolo im vierten Teil; und schließlich die Krebsumkehrung des gesamten ersten Teils einschließlich der Orgelritornelli im Schlussteil.
Zum Thema Reihentechnik und Tonalität äußerte Strawinsky in dieser Zeit: „Die Intervalle meiner Reihen sind von Tonalität angezogen; ich komponiere vertikal, und das ist, wenigstens in einem Sinne, tonal zu komponieren [. . .] Ich höre bestimmte Möglichkeiten und wähle. Ich kann meine Auswahl in der Reihentechnik ebenso treffen wie in irgendeiner tonalen kontrapunktischen Form. Ich höre harmonisch, natürlich, und ich komponiere, wie ich es immer getan habe.“
Manfred Karallus