Agon

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t1 Konzertführer
Igor Strawinsky
Agon

Ein Wettspiel von Bewegungsabläufen in Konstellationen von einem bis zwölf Tänzern, bestehend aus zwölf Sätzen mit vier, durch ‚Prélude‘ und ‚lnterlude‘ getrennten Teilen zu je drei Nummern. Erste und letzte Nummer sind ebenso wie ‚Prélude‘ und ‚lnterlude‘ nahezu identisch. Das Werk verbindet moderne Instrumentations- und Satztechnik mit frühbarocken Tanzschrittmustern nach den Vorschriften von Mersenne und de Lauze (Apologie de la Danse, 1623).

Strawinsky verwendet ein durchaus großes Instrumentarium mit dreifach besetztem Holz, vier Hörner und Trompeten, drei Posaunen, Harfe, Mandoline, Klavier, Pauken, Tamtams (oder hohe Pauken in Es-Ges-B), Xylophon, Kastagnetten und Streicherquintett, das aber nirgendwo zum vollen Einsatz kommt. Jede Nummer hat ihre eigene Besetzung. Instrumentationstechnische Besonderheiten sind im Saraband-Step die gleichzeitige Verwendung von Solovioline, Xylophon, zwei Bassposaunen; in der Gailliarde ein Kanon zwischen Harfe und Mandoline; in der Coda die Zusammensetzung von Flöten, Mandoline und Solovioline; in der Bransle Gay Holzbläser und Kastagnetten.

Lässt sich in Canticum Sacrum der sakrale Ort des Werkes eindeutig determinieren, so handelt es sich bei Agon (im Unterschied zu Strawinskys voraufgegangenen Balletten) um eine Komposition ‚ohne Ort‘, ‚ohne Geschichte‘. Dabei schien es George Balanchine, dem Choreographen der Uraufführung, festgefügter und präziser als gewöhnlich, „wie wenn das Ganze von einem Elektronenhirn kontrolliert würde“. (Strawinsky wiederum verglich dessen abstrakte Choreographie mit Gemälden von Mondrian.)
Technisch gesehen erreicht das Werk seine Zwölftönigkeit (nicht anders als Canticum Sacrum) auf dem Umweg einer zunächst klar definierten Diatonik. So sind erst die drei zentralen Kettenglieder Sarabande, Gailliarde, Bransle mitsamt den diversen Pas (seul, deux, trois, quatre) mit ihren sechs- bis zwölftönigen Gebilden nach den Gesetzen der Reihentechnik gebaut. Polyrhythmische Eigenarten wie die Kastagnettenpassage in der
Bransle Gay (an deren verquerer Metrik sich Ernest Ansermet stieß) sowie der Pas-de-deux (Teil 4) stellen die am strengsten organisierten Abschnitte der Partitur dar (letzterer mit einer gänzlich neuen Reihe). Agon liefert unter allen Werken Strawinskys den besten Beweis für die relative Bedeutung der ‚Technik‘ in der Auseinandersetzung mit dem musikalischen Material. Jeder Technik zwingt Strawinsky seinen Stempel auf.

Die Komposition des Agon, zu der Strawinsky 1952 beauftragt wurde und die er im Dezember 1953 aufnahm, wurde zweimal unterbrochen: 1954 durch In Memoriam Dylan Thomas und 1955 durch Canticum Sacrum. 1956 nahm Strawinsky die Arbeit wieder auf, am 27. April 1957 wurde sie abgeschlossen. Gewidmet ist sie den Ballettmeistern Lincoln Kirstein und George Balanchine. Die Uraufführung fand an Strawinskys 75. Geburtstag, dem 17. Juni 1957, unter Leitung von Robert Craft statt.
Manfred Karallus

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.