Henryk Górecki

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t1 Konzertführer
Henryk Górecki
Henryk Górecki

geb. Czernica, 6. Dezember 1933 – gest. Katowice, 12. November 2010

Mitunter macht die Musikgeschichte merkwürdige Eskapaden. Der polnische Komponist Henryk Górecki zählte in den fünfziger Jahren zu den hoffnungsvollsten polnischen Nachwuchskomponisten. Seine Musik war damals durch eine große klangliche Leuchtkraft mit Tendenzen zu magischer Wirkung charakterisiert. Hierzu verwendete er ausgiebig experimentelle Spiel- und Satztechniken (denaturierte Streicherklänge, Clustertechniken etc.), was ihn in der Radikalität etwa neben Penderecki stellte. In diesem Umfeld entstand um 1959 die erste Symphonie. In den sechziger Jahren trat eine Wende hin zu spätromantischen Ausdrucksmitteln ein, wie sie sich zu dieser Zeit bei mehreren Komponisten vollzog. Kaum einer aber war hierhin so entschieden elementar wie Górecki. Der Satz wurde ausgedünnt, einzelne Töne, Wiederholungsstrukturen, ostinate Gebilde saugten förmlich direkte Wirkungskraft auf. Die Rückbesinnung entdeckte Volksmusikwendungen, modale Mittel, den Kirchengesang mit seiner in Polen reichen katholischen Tradition, die Sprachvertonung trat stärker ins Zentrum des Wirkens von Górecki. Hiervon zeugt die 1972 entstandene zweite Symphonie für Sopran, Bariton, Chor und Orchester mit dem Untertitel Kopernikus. 1976 schrieb er im Zuge der polnischen Unabhängigkeitsbestrebungen die dritte Symphonie, die Symphonie der Klagelieder für Sopran und Orchester. Sie gedachte der Leiden, die das polnische Volk in seiner Geschichte zu erdulden hatte. Die archaisierenden Tendenzen wurden noch weiter vorangetrieben, schlichte Linien, einfaches Melodienmaterial in sonor griffiger Instrumentation und in bohrenden Wiederholungsstrukturen transportierten den Klageausdruck. Etwa 15 Jahre später, nachdem die Musikwelt den konsequent fortgetriebenen Prozess der Innenwendung bei Górecki teils mit Verwunderung, teils mit Anerkennung zur Kenntnis genommen und ‚zu den Akten‘ gelegt hatte, war es diese Symphonie, die für Furore sorgte. Nach ihrer Verwendung als Filmmusik erlebte eine Plattenaufnahme des Werks so ungewöhnliche Verkaufszahlen, dass die Symphonie des ehemaligen Avantgardisten in den englischen Charts auftauchte. Nun begann gleichsam ihr zweites Leben, Góreckis Symphonie der Klagelieder wurde zum Ausdruck einer Ästhetik, die alles Technischen überdrüssig war und neues Heil in einer mystischen Klangerfahrung und in direkten klanglichen Wirkkräften suchte.

Der überraschende ‚Mega-Erfolg‘ widerspricht freilich keineswegs den Intentionen des Komponisten. Seine kompositorische Entwicklung war nicht nur eine der technischen Radikalwendung, sie zog auch ein Resümee der zunehmenden Vereinzelung und Spezialisierung des Künstlers, der nur noch im eigenen Kreis um Verstehen zu werben vermochte. Die Vertonung der drei Klagelieder – das erste stammt aus einer Sammlung aus dem 15. Jahrhundert, das zweite stammt von einer Wand eines Gestapogefängnisses im Jahr 1944, das dritte ist ein Volkslied, in dem eine Mutter ihren gefallenen Sohn betrauert – wendet sich dem eigenen Volk zu, letztlich allen Leidenden der Welt. Durch ihre bohrende Sinnlichkeit, ihre nachdrücklich schlichte Eindringlichkeit wurden viele angesprochen. Ob es die Richtigen waren, sei dahingestellt. Doch auch Góreckis gewachsenes Misstrauen gegenüber solchen als ‚Richtige‘ Deklarierten ist einkomponiert.
Reinhard Schulz

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.