Heinz Holliger

Zurück
t1 Konzertführer
Heinz Holliger
Heinz Holliger

geb. Langenthal (Schweiz), 21. Mai 1939

Der Ruf des Komponisten Heinz Holliger ist stetig dabei, den des weltweit gefeierten Oboenvirtuosen, wenn nicht zu überflügeln, so doch einzuholen. Nach seinen Studien in Bern, Paris und Basel (unter anderem bei Sándor Veress und Pierre Boulez) fand Holliger schnell zu einer eigenen, höchst subtilen Klangsprache. In den meisten Fällen ist seine Musik von Dichtungen inspiriert, deren expressiver Ton vom Grenzbereich „zwischen Leben und Tod“ kündet. Den ersten kleingliedrigen Kammermusiken der frühen sechziger Jahre – sie sind in Ausdruck und Struktur stark von Anton Webern beeinflusst – folgen immer ausgedehntere, individuelle Formen. Nach einer metaphorisch-geheimnisvollen Dichtung von Nelly Sachs, die mit der „Inkarnation von Davids, des menschlichen Tänzers verflossener Zeit“ konfrontiert, schrieb Holliger zwischen 1963 und 1965 die auch konzertant aufführbaren theatralischen Szenen Der magische Tänzer. Im siebenteiligen Siebengesang (1966/67), einem durchkomponierten Solokonzert für Oboe, Orchester, Singstimmen und Lautsprecher, werden nach Klangfarben und Registern geordnete Orchestergruppen einem zum Teil elektronisch verfremdeten Oboenton gegenübergestellt. Seriell geordnete, filigrane Strukturen schichten sich mit je individuellem Tempo zu einem großangelegten Orchestercrescendo. Den ruhigen Schlussteil durchweben impressionistisch-zart sieben Frauenstimmen wie aus einer anderen Welt. Das phonetische Material des Gesangs basiert auf den Schlussversen von Georg Trakls Gedicht Siebengesang des Todes. Schon in den Nachtstücken Elis (1963) hatte sich Holliger von den morbiden Visionen dieses Phantasten anregen lassen. Magisch ist die Stille im Orchesterstück Atembogen (1974/75). Eine sterbende „Musik entlang verwischter Spuren“ aus dem Geiste Becketts vielleicht. (Dessen absurdes Monodram Not I hat Holliger 1978 kongenial für eine ihrem eigenen elektroakustischen Echo ausgesetzte Stimme vertont.) Das bisher ambitionierteste Werk des Komponisten ist der über zweieinhalb Stunden dauernde Scardanelli-Zyklus für Soloflöte, gemischten Chor, Orchester und Tonband (1975 bis 1985). Das Werk umfasst drei Großabschnitte. Seine 23 Teilstücke sind in mehreren Phasen entstanden und wurden schließlich zum Ganzen gefügt. Im Zentrum des Zyklus stehen, getrennt von instrumentalen Partien, die ‚Jahreszeiten‘, dreimal vier Lieder für Chor a cappella nach späten Gedichten Friedrich Hölderlins. Der „von Apollo geschlagene“ Bewohner des Tübinger Turms hatte sie fiktiv datiert und mit „Scardanelli“ unterzeichnet. Holligers Musik spürt den Todesstarren und Isolationsphobien, von denen diese nur scheinbar idyllischen Texte durchwirkt sind, auf seismographische Weise nach. Raffinierte Satzkünste (zum Beispiel Kanons im Mikrointervallbereich oder das Klangnegativ des Bach-Chorals Komm, o Tod, du Schlafes Bruder) und neuartige Artikulationsweisen (wie „Singen mit fast leeren Lungen“) künden von der trügerischen Heiterkeit der Grabesstille. Mit ihrer oft wie gefrorenen Harmonik und erstarrten Expressivität am Rande des Nichts trifft Holliger Hölderlins Befindlichkeit: „So eisern mein Himmel ist, so steinern bin ich.“

Zielsicher wendet sich Heinz Holliger immer wieder grenzgängerischen Existenzen zu, deren Schicksale ihnen eine oft vertiefte Sensibilität beschert hatten, hochsensiblen und komplexen Künstlerpersönlichkeiten, die den Rand des Irrsinns streiften oder überschritten, die in Nervenheilanstalten leben mussten und verstummten: Robert Schumann etwa (Gesänge der Frühe, 1987, für Chor, Orchester und Tonband) oder dem Schweizer Dichter Robert Walser (Beiseit, 1990/91, zwölf Lieder nach seinen Gedichten für Kontratenor, Klarinette, Akkordeon und Kontrabass). Holliger spürt mit seiner oft hermetischen, gläsernen, innerlich extrem reichen Musik den Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten solcher nicht selten am Unverständnis der Gesellschaft gescheiterten Menschen nach. Sein subtil besetztes Stück AlbChehr (1991), eine Geischter- und Älplermüsig fer d Oberwalliser Spillit für Sprecher, kleinen Chor ad libitum und Kammerensemble, entführt – weit jenseits aller Trivial-Folklore – in eine hermetische Welt der Naturmagie voller Beklemmung und Todesnähe. Herausragend auch: das Konzert Hommage à Louis Soutter (1993 – 95) für Violine und Orchester. Ohne Programmmusik zu sein, zeichnet es die Lebenskurve des genialischen Malers Louis Soutter (1871 – 1942) nach, der Naturwissenschaften, Musik und schließlich Malerei studiert hatte. Auch er eine tragische Gestalt: Soutter lehrte einige Jahre Bildende Kunst in den USA, kehrte dann 1904 in die Schweiz zurück und wurde als gebrochener Mann bald in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Als unruhiger, bitterarm Gescheiterter, aber hellsichtig wie nur wenige, malte er mit einfachsten Mitteln ungemein ausdrucksstarke Bilder: groteske Zuckungen von Menschen und Schatten, gespenstische Fingerbilder in schwarzweißen Rhythmen. In den vier Sätzen ‚Deuil‘ – ‚Obsession‘ – ‚Ombres‘ und ‚Epilog‘ nimmt Holliger Motive der Kunst seines Landsmannes ins Musikalische auf, zitiert auch ein Werk von Soutters Geigenlehrer Ysaye (wie jener in seiner Ballade Nr. 3 für Solovioline die berühmte Sequenz Dies irae), macht Bilder plastisch, schreibt unter die Haut gehende Musik.
Helmut Rohm

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.