Roméo et Juliette op. 17; La Damnation de Faust op. 24

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t1 Konzertführer
Hector Berlioz
Roméo et Juliette op. 17; La Damnation de Faust op. 24

Die Identifikation Berlioz‘ mit den Helden seiner Musik zeigt alle Symptome einer Manie, wie sie Sigmund Freud 1921 in seiner Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse skizziert hat. Freud stellt dem ‚Ich‘ ein ‚Ich-Ideal‘ gegenüber, das eine kritische Distanz im Ich (das Gewissen) einschließt, „sodass der Mensch, wo er mit seinem Ich selbst nicht zufrieden sein kann, doch seine Befriedigung in dem aus dem Ich differenzierten Ich-Ideal finden darf“; dagegen „sind beim Manischen Ich und Ich-Ideal zusammengeflossen, sodass die Person sich in einer durch keine Selbstkritik gestörten Stimmung von Triumph und Selbstbeglücktheit des Wegfalls von Hemmungen, Rücksichten und Selbstvorwürfen erfreuen kann“. Berlioz‘ manische Disposition ist augenfällig: Die Grenze zwischen dem Ich-Ideal des „introjizierten“ (Freud) literarisch-musikalischen Objekts und dem Ich des Komponisten ist aufgehoben, das Werk gerät zur Selbstdarstellung, das „Ungeheuerliche, Riesenhafte“ des Entwurfs (Heinrich Heine) ist getreues Abbild der eigenen Größe. Bereits im Stadium der Planung eines neuen Werkes scheint Berlioz kaum Zweifel an seinem Gelingen gehabt zu haben; eine „Stimmung von Triumph und Selbstbeglücktheit“ erfüllte ihn im Dezember 1838, als er sich durch ein Geldgeschenk Niccolo Paganinis in die materielle Unabhängigkeit versetzt sah, die es ihm erlaubte, eine neue Arbeit in Angriff zu nehmen: „Ich fasste den Entschluss, ein Meisterwerk zu schreiben – eine in ihrer Art neue und gewaltige Komposition voller Kraft, Phantasie und Leidenschaft. Nach ziemlich langem Zögern entschied ich mich für die Idee einer Sinfonie mit Chören, Gesangssoli und einem Chor-Rezitativ nach Shakespeares Romeo und Julia.“

Es ist bezeichnend, dass keine einzige Zeile des Textes (den Emile Deschamps nach einem Prosaentwurf Berlioz‘ versifiziert hat) tatsächlich von Shakespeare stammt. Roméo et Juliette ist keine Literaturvertonung, sondern das musikalische Selbstporträt des Komponisten im Spiegel bestimmter biographischer Ereignisse. Als Spiegel der unglücklichen Ehe mit der englischen Shakespeare-Darstellerin Harriet Smithson ist das Werk ein Präzedenzfall der Sublimierung: „Die Befriedigung wird aus Illusionen gewonnen, die man als solche erkennt, ohne sich durch deren Abweichung von der Wirklichkeit im Genuss stören zu lassen. Das Gebiet, aus dem diese Illusionen stammen, ist das des Phantasielebens. [...] Kunst als Lustquelle und Lebenströstung“ (Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur).

„Es handelt sich bei diesem Werk weder um eine konzertante Oper noch um eine Kantate, sondern um eine Sinfonie mit Chören“, erklärt Berlioz im Vorwort seiner Partitur; eine Symphonie? Das Missverständnis ist vorgezeichnet: Seit der Uraufführung, die der Komponist selbst am 24. November 1839 im Konzertsaal des Pariser Conservatoires dirigierte, wurde das Werk immer wieder als „ästhetisches Monstrum“ (Eduard Hanslick) apostrophiert, und sogar linientreue Apologeten der Programmmusik reagierten oft eher verstört als enthusiastisch. Tatsächlich sind die prismatischen Brechungen der gewissermaßen ‚dreidimensionalen‘ Partitur einzigartig; Berlioz projiziert den Gang der Handlung auf verschiedene Erlebnis- und Bewusstseinsebenen, stellt Aktion, Reaktion und Reflexion nebeneinander; daher auch Hanslicks Klage, der Hörer werde „fortwährend aus einer bestimmten ästhetischen Voraussetzung in eine andere geschleudert und wieder zurück“. Die Schwerpunkte der Tragödie aber – die ,Balkonszene‘ (,Scène d'amour‘) und der ,Tod der Liebenden‘ (,Roméo au tombeau des Capulets‘) – lassen sich als reine Instrumentalsätze nur mehr introspektiv erfahren; „die Erhabenheit dieser Liebe“ sperrt sich gegen die Eindeutigkeit einer Textvertonung, sodass Berlioz der „gerade auf Grund ihrer Unbestimmtheit unvergleichlich kraftvolleren Sprache der Instrumentalmusik“ den Vorzug gab. Schon in der Symphonie fantastique und im Lélio waren Traum und Wirklichkeit zum Amalgam des Lebens verschmolzen; derselbe Irrationalismus bestimmt auch die Dramaturgie der Roméo et Juliette-Partitur: bei Shakespeare findet die Liebe Romeos und Julias wenigstens die Erfüllung einer einzigen Nacht, bei Berlioz dagegen ist diese – jede? – Liebe bloß eine Phantasmagorie: zwischen der Balkonszene und dem Leichenzug Julias (ein fugierter, von der klagenden Psalmodie des Chors skandierter Trauermarsch) steht nur das Scherzo der Feenkönigin Mab. Ähnlich frei wie in Roméo et Juliette mit Shakespeare ist Berlioz in der dramatischen Legende La Damnation de Faust mit Goethe umgegangen. „Die Legende vom Doktor Faust eignet sich zu der verschiedenartigsten Behandlung; sie gehört dem Volke an und war lange vor Goethe dramatisch bearbeitet worden; sie war lange vorher unter den verschiedensten Formen in der Literatur des nördlichen Europa verbreitet, ehe er sich ihrer bemächtigte. Im Übrigen ist bereits aus dem Titel des Werkes – Fausts Verdammnis – zu ersehen, dass es nicht auf der Idee des Goethe‘schen Faust beruht, da jener ja mit Fausts Rettung schließt.“ Das 1845/ 46 entstandene Werk geht zurück auf die Huit Scènes de Faust, die Berlioz schon 1828/29 komponiert und seinerzeit an Goethe gesandt hatte; Goethe konnte mit der Partitur freilich nichts anfangen und bat seinen (in seiner musikalischen Kompetenz höchst zweifelhaften) Adlatus Zelter um ein Urteil. „Gewisse Leute können ihre Geistesgegenwart und ihren Antheil nur durch lautes Husten, Schnauben, Krächzen und Ausspeyen zu verstehn geben; von diesen Einer scheint Herr Hector Berlioz zu seyn. Der Schwefelgeruch des Mephisto zieht ihn an, nun muss er niesen und prusten, dass sich alle Instrumente im Orchester regen und spuken – nur am Faust rüht sich kein Haar. Ein Absceß, eine Abgeburt welche aus gräulichem Inceste entsteht.“

Die Struktur der Damnation – zwanzig Nummern im Wechsel von Chor, Ensemble, Solo und Orchestersatz – ist letztlich ebenso introspektiv wie die der Roméo-Symphonie, und wie dort stellt Berlioz auch hier Aktion, Reaktion und Reflexion nebeneinander, die sich in der Gestalt Fausts konzentrieren; vom eigentlichen Handlungsablauf bleiben nur die Szene in Auerbachs Keller (Nr. 6) und Fausts Höllenfahrt (Nr. 18) erhalten. In separaten Aufführungen sind die drei Orchestersätze des Werkes – die ‚Marche Hongroise‘, das ‚Ballet des Sylphes‘ und das ‚Menuet des Follets‘ – zum festen Bestandteil des Orchesterrepertoires geworden.
Michael Stegemann

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.