Ouvertüren, Orchesterstücke und -lieder

Zurück
t1 Konzertführer
Hector Berlioz
Ouvertüren, Orchesterstücke und -lieder

Hector Berlioz
La Côte-Saint-André, 11. Dezember 1803 – Paris, 8.März 1869

„Mein Leben ist ein Roman, der mich sehr interessiert“, hat Hector Berlioz in seinen Mémoires vermerkt. Dahinter steckt mehr als nur romantische Emphase oder Exaltation: Tatsächlich ist sein Oeuvre eine monumental klingende Autobiographie – jede Zeile ein Akkord, jede Seite eine Melodie, jedes Kapitel eine Komposition: das Werk eines Nachtwandlers zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Alles Erleben wird sublimiert, wird zu Musik – eine Flucht ins Ideal der Kunst, das die dunkle Realität verklärt.

Als Berlioz 1826 mit der Ouvertüre seiner Oper Les francs-juges (Die Femerichter) sozusagen das erste Kapitel dieser Autobiographie komponiert, leben Beethoven und Schubert noch, doch der klassische Geist liegt in Agonie. Was vermag auch sein objektives Maß gegen die subjektive Unmäßigkeit eines Berlioz? Dem ‚es ist‘ der Norm hält er sein ‚Ich bin‘ entgegen, das alle Fesseln musikalischer Gesetze gesprengt hat. Auch hundert Jahre später wird man dieses ‚Ich bin‘, diese Droge der künstlerischen Freiheit, noch nicht bis zur Neige ausgekostet haben. Berlioz‘ Musik ist das Substrat aller Avantgarde, aller neuen Musik (nicht nur des 19. Jahrhunderts): Die ‚idée fixe‘ wird bei Wagner zum Leitmotiv, die Programmidee führt zu den symphonischen Dichtungen Listzs, die Form und ihre Dramaturgie verheißen die Symphonik Mahlers, die Klangfarben finden sich auch noch auf den Paletten Ravels, Strawinskys und Messiaens. Doch das grundlegende, das erschreckend Neue dieser Musik ist keine Frage kompositorischer Techniken: Es ist die Hypertrophie des Entwurfs, der das Innerste nach außen kehrt und sich der Welt in erbarmungsloser Offenheit mitteilt. Die meisten Künstler treten bescheiden hinter ihr Werk zurück, einige wenige überschatten es mit ihrer Persönlichkeit, Berlioz aber ist sein Werk.

Die musikalischen Helden Berlioz‘ sind durchweg Projektionen seines Ichs und auch die ‚idée fixe‘ (die nicht erst in der Symphonie fantastique erscheint, sondern als Rückgriff auf eine Romanze für Gitarre und Gesang der Jugendzeit – schon 1828 in der Rompreis-Kantate Herminie) ist das Selbstporträt des „jungen Musikers von krankhafter Empfindsamkeit und glühender Phantasie“, als den Berlioz immer wieder „sich selbst vertont“ hat. Die literarischen Helden Vergils (Aeneas in Les Troyens), Shakespeares (Romeo, König Lear und – im zweiten und dritten Stück der Tristia-Trilogie – Hamlet), Goethes (Faust), Byrons (Harold und Rob Roy), Walter Scotts (Waverley) und Coopers (Le Corsaire, nach dem Roman The Red Rover des Lederstrumpf-Autors) oder historische Gestalten wie Benvenuto Cellini oder Kleopatra haben alle eines gemeinsam: Es sind Einzelgänger, die auf Grund der Radikalität ihres Fühlens, Denkens und Handelns von der ‚Durchschnittswelt‘ ausgestoßen wurden oder gegen sie kämpfen.

In den Briefen und Schriften Berlioz‘ taucht immer wieder die Bemerkung auf, die musikalische Gestaltung dieses oder jenen Sujets verlange natürlich nach gänzlich neuen kompositorischen Mitteln und einer unbedingten Wahrhaftigkeit des Ausdrucks. Das beklemmende Stocken des Herzschlags der Kleopatra, die wortlose Trauer der Unisono-Chorvokalisen der ‚Marche funèbre pour la dernière scène d'Hamlet‘ oder die aufgepeitschte Jagd- und Sturmszenerie der ‚Chasse royale et orage‘ – Vorspiel zum vierten Akt der Troyens – treiben die Expressivität der Musik (und damit auch ihre spieltechnischen Anforderungen) an die Grenzen des Möglichen. Alles bei Berlioz ist Erfindung, nichts Nachahmung. Und selbst die weit ausladenden Kantilenen der Nuits d'été (nach Gedichten von Théophile Gautier) oder der Rêverie et Caprice, die Berlioz 1841 (nach Motiven einer Arie seines Benvenuto Cellini) für den Geiger Alexandre Artöt komponiert hat, sind von dem unverbindlichen, stereotypisierten Lyrismus des italienischen Belcanto denkbar weit entfernt. Dass Berlioz damit beim Pariser Publikum auf absolute Verständnislosigkeit stieß und als „gefährlicher Irrer“ angesehen wurde, nimmt nicht weiter wunder; „wie kann ich eine solche Musik gutheißen – ich, der ich doch von Musik beruhigt werden möchte“, zitiert der Komponist in seinen Mémoires einen Ausspruch Boieldieus. Nein, ‚beruhigend‘ ist Berlioz‘ Musik wirklich nicht! Die dumpfen, gegen den Strich gekämmten Paukenakzente der Waverley-Ouvertüre, die abrupten, lähmenden Einbrüche und Pausen des Roi Lear, die asymmetrischen melodischen Phrasen im Corsaire, der wilde Taumel der Tarantella zu Beginn des Carnaval romain, der unvermittelt abbricht und einer sehnsüchtigen Englischhornmelodie Platz macht – immer wieder wird der Zuhörer aus dem Strom der Musik heraus- und in eine Welt hineingerissen, in der er sich dem Ich des Komponisten fügen muss.

Um die ganze Radikalität Berlioz' zu ermessen, muss man sich die musikalische Szenerie im Paris seiner Zeit vor Augen führen: Sie ist beherrscht von einem knöchernen Akademismus, dem die Werke Mozarts oder Beethovens fremd sind, wenn er sie überhaupt kennt, beherrscht von einer zum Dogma erhobenen Mittelmäßigkeit, von der ‚Schule der Geläufigkeit‘ vorgefertigter Geschmacks- und Denkmodelle. „Ihr elenden Bewohner des Tempels der Routine“, wettert Berlioz alias Lélio gegen die Exponenten dieses Musiklebens, „fanatische Priester, die ihr eurem stumpfsinnigen Götzen die erhabensten neuen Ideen opfern würdet, wenn ihr je solche hättet! Ihr ‚jungen‘ Theoretiker von achtzig Jahren, die ihr inmitten eines Ozeans von Vorurteilen lebt und glaubt, die Welt ende am Ufer eurer armseligen Inseln! Ihr greisen Lüstlinge, die ihr euch von der Kunst zerstreuen und liebkosen lassen wollt! Fluch über euch, die ihr aus der Kunst ein widerliches Possenspiel macht! Ach, unter euch zu leben ist für einen wahren Künstler schlimmer als die Hölle! Fort, nur fort!“
Und so flüchtet sich Berlioz in der Maske seiner Helden in das Utopia einer idealen musikalischen Welt, wie sie nur ein Visionär erdacht haben kann.
Michael Stegemann

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.