Grande Messe des Morts (Requiem) op. 5; Te Deum op. 22; Grande Symphonie funèbre et triomphale op.15

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t1 Konzertführer
Hector Berlioz
Grande Messe des Morts (Requiem) op. 5; Te Deum op. 22; Grande Symphonie funèbre et triomphale op.15

Im Sommer 1832 begann Hector Berlioz mit der Arbeit an der Oper Le Dernier jour du monde (Der letzte Tag der Welt), nach einem Libretto seines Freundes Humbert Ferrand. „Die Menschen sind auf die letzte Stufe der Korruption abgesunken und begehen die schlimmsten Untaten; eine Art Antichrist hat alle Macht an sich gerissen und übt seine Gewaltherrschaft aus... Inmitten dieser allgemeinen Verderbtheit steht eine kleine Gruppe von Gerechten, angeführt von einem Propheten. Der Despot setzt ihnen zu, wo er kann, entführt ihre Jungfrauen, spottet ihres Glaubens und lässt ihre heiligen Bücher in einer wilden Orgie zerreißen. Der Prophet wirft ihm seine Verbrechen vor und verkündet das Ende der Welt, das Jüngste Gericht. Der Despot aber lässt ihn in den Kerker werfen und gibt sich aufs Neue seinen schändlichen Trieben hin. Während eines seiner Feste erschallen plötzlich die schrecklichen Posaunen der Auferstehung; natürlich bedarf es dafür gänzlich neuer musikalischer Mittel: Außer den beiden Orchestern mit ihren zwei-, dreihundert Musikern werden vier Blechbläser-Ensembles an den vier Kardinalpunkten des Aufführungsortes postiert. Die Toten steigen aus ihren Gräbern hervor, und in einem gigantischen Taumel bricht die Welt zusammen...“

Wie viele andere Werke Berlioz‘ verschwand auch die Oper Le Dernier jour du monde in der Schublade nicht weiter verfolgter Projekte, um Jahre später (zumindest partiell) in anderer Gestalt wieder aufzuerstehen: im Tuba Mirum des Requiems – der Grande Messe des Morts op. 5, die am 5. Dezember 1837 im Pariser Invalidendom zur Trauerfeier des Generals Charles-Marie de Damrémont uraufgeführt wird. „Gänzlich neu“ ist das musikalische Mittel der vier Fern-Orchester freilich nicht, die Berlioz hier, im Rex tremendae und im Lacrymosa, verlangt; schon 1760 hatte François Joseph Gossec im Tuba mirum seines Requiems (das Berlioz aller Wahrscheinlichkeit nach gekannt hat) „in einiger Entfernung und etwas versteckt auf einem erhöhten Platz in der Kirche drei Posaunen, vier Klarinetten, vier Trompeten, vier Hörner und acht Fagotte postiert“.

Man hat die Chor- und Orchestermassen gerade dieser drei Sätze immer wieder als Beweis „für das Ungeheuerliche, für das Riesenhafte, für [die] materielle Unermesslichkeit» (Heinrich Heine) der Musik Berlioz‘ herangezogen; dass es dem Komponisten dabei weniger um Klangvolumen, als vielmehr um spezifische Klangfarben ging, scheinen auch heute noch seine Kritiker nicht sehen zu wollen. Wenn etwa im Sanctus bis zu zehn Becken-Paare ‚pianissimo possibile‘ zu spielen haben, so ist dieser Klang – als ob ein Wassertropfen im Feuer verzischt – durch keine anderen Mittel zu erreichen. Überhaupt ist das Requiem trotz der drei ‚Explosionen‘ eher ein introspektives Werk; die Zurückhaltung des Dies irae und der a capella-Satz des Quaerens me sind äußerem Effekt ebenso fern wie das Offertorium, das in seiner Konstruktion dreier scheinbar unabhängig voneinander ablaufenden Ebenen eine der erstaunlichsten Schöpfungen Berlioz ' darstellt: ein langsames Fugato, dessen dreizehntaktiges (!) Thema in sich chromatisch gestaffelt ist, ein unisono des Chors, das mit nur zwei Noten (a-b) und einem gleichbleibenden Rhythmus den Text psalmodiert, und starre sforzato-piano-Akkorde der Holzbläser. Eine wirklich „ungeheuerliche“ Musik, wenn auch in ganz anderem Sinn, als Heine es meinte.

Auch das Te Deum op. 22 für Tenorsolo, Knabenchor, zwei Chöre, Orchester und Orgel, das Berlioz vermutlich 1849 komponierte, knüpft an frühere Werke an: das Christe, rex gloriae verarbeitet Material aus dem Resurrexit der 1825 entstandenen Messe solennelle, und als Ganzes scheint das Te Deum zum einen Nachklang einer zweisätzigen Symphonie militaire zu Ehren Napoleons zu sein (1832), zum anderen einer Fête musicale funèbre à la mémoire des hommes illustres de la France (1835). So jedenfalls erklärte sich ein Kritiker der Uraufführung, die Berlioz selbst am 30. April 1855 in der Eglise Saint-Eustache dirigierte, das „so ganz kriegerische Gepräge“ des Werkes. In einem Brief an Franz Liszt hat Berlioz am 1. Januar 1853 sein Te Deum knapp beschrieben:

„Es dauert eine Stunde und hat acht große Sätze [von denen das Prélude und die Marche pour la présentation des drapeaux nur bei besonderen Anlässen aufgeführt werden sollen]; den letzten Satz [Judex crederis] betrachte ich als rechten Vetter des Lacrymosa meines Requiems. Weiter gibt es ein Gebet für Tenorsolo mit Chor [Te ergo quaesumus] und ein anderes Gebet [Dignare] für zwei Chorstimmen in kanonischer Imitation über einer einzigartigen Folge von Orgelpunkten, die von den übrigen Chorstimmen und den tiefen Instrumenten gehalten werden: D – F-dur – a-moll / A-dur – C-dur/ c-moll – Es-dur / Dis-dur – E-dur – cis-moll – A-dur – fis-moll – D-dur. [Im Brief als Notenbeispiel dargestellt.] Schließlich sind da noch die prunkvollen Harmonien des eigentlichen Te Deum mit einer Fuge über einen Choral, der zunächst von der Orgel intoniert wird und dann durch alle Stimmen und das ganze Orchester kreist.“

Zwischen Requiem und Te Deum liegt die Komposition der Grande Symphonie funèbre et triomphale, die der französische Innenminister Charles de Remusat für die Feierlichkeiten zum zehnten Jahrestag der Juli-Revolution und die Einweihung der Bastille-Säule (am 28. Juli 1840) bestellt hatte. Die Urfassung des Werkes (als Symphonie militaire) mit den drei Sätzen Marche funèbre, Hymne d 'adieu und Apothéose war für Militärorchester gesetzt und zur Aufführung während der Prozession von der Eglise SaintGermain-l'Auxerrois zur Place de la Bastille bestimmt, bei der die Symphonie insgesamt sechsmal gespielt wurde und großen Eindruck machte; 1842 arbeitete Berlioz die Partitur für Militär- und Streichorchester um und ließ von Antony Deschamps die Apothéose textieren; der zweite Satz (mit einem ausgedehnten, rezitativischen Solo der Tenorposaune, das sich schon 1826 in der Oper Les francs-juges findet) erhielt nun den Titel Oraison funèbre, und das ganze Werk wurde als Grande Symphonie funèbre et triomphale mit der Opuszahl 15 1843 bei Schlesinger veröffentlicht. Die Tradition solcher Militärsymphonien lässt sich in Frankreich zurückverfolgen bis zur musikalischen Gestaltung der Feste und Zeremonien der Revolution und reicht bis weit ins 20. Jahrhundert hinein (Gabriel Fauré, Charles Koechlin, Camille Saint-Saëns, Florent Schmitt) – Spiegel des militärisch-künstlerischen Selbstverständnisses der ‚grande nation‘, an deren ‚grandeur‘ wenigstens Berlioz noch glauben konnte...
Michael Stegemann

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.