Hans-Joachim Hespos

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t1 Konzertführer
Hans-Joachim Hespos
Hans-Joachim Hespos

geb. Emden, 13. März 1938

Die Kluft zwischen den in der Partitur fixierten Intentionen eines Komponisten und ihrer klanglichen Realisierung durchzieht die Aufführungspraxis der Neuen Musik seit Beginn unseres Jahrhunderts. Die Hoffnung, dass sie sich, etwa im Sinne eines stetigen Fortschritts, dank zunehmender Routine der Orchestermusiker langsam verkleinern würde, wird vom Werk eines Komponisten wie Hans-Joachim Hespos als fromme Illusion entlarvt. Der 1938 in Emden geborene Autodidakt besitzt wie kaum ein anderer die Begabung, mit seinen Werken die Begrenzungen, Zwänge und festgefahrenen Gewohnheiten des Musikbetriebs sichtbar zu machen. Jedes ist eine neue Herausforderung für Interpreten, Dirigenten und Veranstalter, geplatzte Aufführungen sind keineswegs selten. Die Berliner Uraufführung des Orchesterstücks Mouvements wurde 1972 noch elegant als „provisorische Aufführung“ deklariert. In Hamburg hingegen fiel etwa zur gleichen Zeit das neue Werk Interactions der Unbeweglichkeit des Apparats zum Opfer und wurde erst 1974 in Hannover einigermaßen adäquat uraufgeführt. Musikgeschichte wird hier unversehens zur Geschichte gescheiterter Aufführungen.

Es gibt mehrere Gründe, weshalb Hespos‘ Kompositionen oft als unaufführbar gelten. Die Musiker haben erstens grundsätzlich aus der Partitur zu spielen. Die komplexe, gleichsam organisch sich fortzeugende Klanggestalt lässt sich nicht in Metren und Taktstriche pferchen – die herkömmliche Schlagtechnik des Dirigenten versagt, jeder Musiker müsste, entgegen der entfremdeten arbeitsteiligen Praxis, stets das Ganze im Blick und im Ohr haben. Zweitens erfordern die extremen Ausdruckswerte, die oft an Free-Jazz-Artikulationen erinnern, vom Interpreten eine enorme physische und psychische Präsenz. Und drittens hat Hespos eine Vorliebe nicht nur für ausgefallene Instrumentalbehandlung, sondern auch für ausgefallene Instrumente, die oft schwer aufzutreiben sind. In Sound – die Uraufführung 1970 mit dem Kölner Rundfunksymphonieorchester gilt als „öffentliche Generalprobe“ – verlangt er ein Pikkolokornett in hoch es; die erwähnten Interactions für großes Orchester verwenden in der Bläsergruppe unter anderem Heckelmusette und Heckelphon; die Kammermusik für Orchester (Uraufführung 1976 in Metz) führt unter den 22 Bläsern auch Pikkoloheckelphon, Bassetthorn und Basstrompete auf.

Hespos schrieb bisher ein Dutzend Orchesterwerke, die meist in Konzertreihen und bei Festivals Neuer Musik aufgeführt werden. Auch mehrere szenische Kompositionen, teilweise mit satirischem Einschlag, stehen in seinem Werkverzeichnis. Die meisten seiner rund achtzig Kompositionen entstanden jedoch für sehr unterschiedliche kleine Besetzungen. Diese Bevorzugung des Solistischen entspricht einem Wesensmerkmal seines Denkens. Die Partituren zielen auf die Freisetzung verschütteter Kräfte bei Interpret und Hörer. Hespos‘ Musik ist Einspruch des Subjekts gegen eine „Objektivität, die sich blind über die Köpfe der Subjekte hinweg vollzieht“ (Heinz-Klaus Metzger). In der Übertragung dieser subjektzentrierten Kompositionsweise auf einen Apparat, der nur kraft der Unterordnung des einzelnen unter das Ganze funktionieren kann, liegt die objektive Sprengkraft von Hespos‘ Orchesterwerken.

In Werk und Person von Hans-Joachim Hespos zeigt sich der seltene Fall eines Komponisten, der den radikal subjektiven Losungen, unter denen er einst angetreten ist, über Jahrzehnte hinweg ohne Abstriche treu geblieben ist. Auch als in den libertär erschöpften westeuropäischen Gesellschaften das ironische Zeitalter der Postmoderne ausgerufen wurde, hielt er am Begriff eines experimentellen Komponierens fest, in dem Neugierde an der klanglichen Erscheinung und ästhetische Kompromisslosigkeit eine fruchtbare, von existentieller Notwendigkeit geprägte Verbindung eingehen. An Anpassungsdruck hat es nicht gefehlt. Der Außenseiter und Provokateur, der nie eine akademische Stellung bekleidet hat, ist mit zahlreichen Preisen geehrt und weltweit als Gastdozent eingeladen worden. Seit 1991 ist er Mitglied der freien Akademie der Künste in Hamburg, 2005 hat die Akademie der Künste Berlin ein Hespos-Archiv eingerichtet. Die Staatsoper Hannover lud ihn 2001 als Composer-in-residence ein und brachte 2005 sein abendfüllendes Bühnenwerk iOpal mit großer Resonanz zur Uraufführung – ein „Große Oper“ genanntes „offenes Materialfeld“ von strikt antinarrativer Machart, in dem der Gesang und die sinnliche Wahrnehmung den Vorrang haben vor intellektuellen Konzepten.

Trotz äußerer Erfolge und wachsender Anerkennung hat Hespos stets eine gesunde Distanz zu den Institutionen bewahrt. Das drückt sich unter anderem auch darin aus, dass er seine Partituren im Eigenverlag herausgibt und im Veranstaltungsbereich immer wieder freie Initiativen unterstützt und auch selbst ins Leben ruft, so 1982 die ‚Kulturreibe Hoyerswege – Zentrum Aktueller Taten‘ und 1993 ‚Die Wiese GmbH, inspirierendes Feld für Erprobungen, Ausgangspunkt der Nordeuropäischen Kulturstraße‘. Musik ist „alles, was über das Ohr geht“, und „Kunst braucht Unzusammenhang“, sagt Hespos, und damit beschreibt er präzise die Zielrichtung seines Denkens: Unter dem Schutt der Konventionen soll ein Terrain unmittelbarer Erfahrung freigelegt und der Kunst damit die Fähigkeit wiedergegeben werden, den Zuhörer in seinen falschen Gewissheiten zu erschüttern.
Max Nyffeler

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.