geb. Gütersloh, 1. Juli 1926 – gest. Dresden, 27. Oktober 2012
Henze entstammt einer kinderreichen Lehrerfamilie aus Gütersloh. Mit zwölf Jahren begann er zu komponieren. Ohne Abitur wurde er 1943 Student an der Braunschweiger Musikhochschule (Theorie, Klavier, Schlagzeug). Die letzten Kriegsmonate verbrachte er als Funker in einer Panzereinheit, was in ihm ein Trauma ohnmächtiger Mitschuld, aber auch den niemals erlahmenden Widerwillen gegen Krieg und Faschismus weckte. 1946 ging er als Kompositionsschüler zu Wolfgang Fortner nach Heidelberg. Da Fortner auf Anfrage die Schönberg‘sche Zwölftontechnik für „erledigt“ hielt, brachte Henze sich diese Komponiermethode 1947 selbst notdürftig bei. Gleichwohl standen seine ersten Nachkriegswerke vor allem unter dem Einfluss Hindemiths (dessen Ausstrahlung allgemein bis in die frühen fünfziger Jahre hinein recht stark war).
Zu diesen Frühwerken zähltauch die erste Symphonie (1947), ein knapp dimensioniertes Werk in drei Sätzen, naiv und unbefangen in seiner ‚musikantischen‘ Machart. Henze bezeichnete das Stück später als „reinen Fehlschlag“ und bemängelte primitive Faktur, schlechten Klang und zu eilige Niederschrift. 1963 unterzog der Komponist die Symphonie einer gründlichen Neubearbeitung, die einerseits die Orchesterbesetzung reduzierte, andererseits aber auch für raffiniertere Klangaspekte sorgte (Altflöte, Englischhorn und Bassklarinette wurden charakteristisch einbezogen). In der neuen Gestalt (Henze erläuterte sie 1963: „Nun habe ich eine neue Fassung gemacht, das Material neu geordnet und zu rekonstruieren versucht, was ich damals wollte: wie wenn ein Lehrer seinen Schüler helfend korrigiert“) wirkt das Stück nun reif, gekonnt und meisterlich, ohne dass der jugendliche Schwung verloren gegangen wäre (natürlich gäbe es sicher Gründe, auch für die ‚rohe‘ Urfassung zu plädieren). Polytonale Bildungen sind im ersten Satz wie auch im Folgenden ‚Notturno‘ anzutreffen. Bemerkenswert, wie wenig ‚schulmäßig‘ Henze im Kopfsatz die Sonatenform handhabt. Dass das Finale eigentlich ein Variationssatz ist, wird angesichts der dauernden melodischen Gestaltveränderungen eines niemals recht greifbaren ‚Themas‘ beim ersten Hören kaum merklich.
Von 1947 an nahm Henze mehrere Jahre an den ‚Internationalen Ferienkursen für Neue Musik‘ teil, die anfangs im Jagdschloss Kranichstein bei Darmstadt, später in Darmstadt selbst tagten. Bezeichnenderweise war es kein deutscher Komponist oder Theoretiker, sondern René Leibowitz aus Paris, der hier die jungen, lernbegierigen Musiker in die Dodekaphonie einwies und damit einen wichtigen Grundstein zur Entwicklung der ‚seriellen‘ Musik (die in den fünfziger Jahren zur Doktrin dieser ‚Darmstädter Schule‘ erklärt wurde) legte. Henze wollte es noch genauer wissen und folgte Leibowitz 1948 nach Paris, suchte außerdem noch Kontakt zu dem Zwölftonkenner Josef Rufer. Gegenüber dem symphonischen Erstling bildete die 1949 vorgelegte zweite Symphonie Henzes nach diesen Studien einen beträchtlichen Fortschritt; unverkennbar sind in diesem Werk die differenziertere Orchesterbehandlung, das Streben nach unmittelbarem Ausdruck und der souveräne Umgang mit verschiedensten Kompositionsmaterialien. Es fällt im stilistischen Umkreis der zweiten Symphonie (mehr noch beim ersten Violinkonzert als bei dieser) auf, dass Henze sich keiner ‚orthodoxen‘ Handhabung der ‚Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen‘ unterzog, sondern dodekaphonisch organisierte Passagen mit tonal zentrierten (oder auch freitonalen) zu konfigurieren liebt. Dadurch gewinnt die Musik eine große Polyvalenz und Farbigkeit. Bereits ein Jahr nach der zweiten entstand die dritte Symphonie, in deren Finale polytonale Blechbläserschichtungen auftauchen, wie sie für Henzes späteren Orchestersatz typisch wurden. Die frühen Symphonien Henzes wurden, einzeln oder in verschiedenen Kombinationen, auch mit Ballettsujets verbunden – was ihrem stark rhythmisch geprägten Charakter entsprach.
Die Bühnen- und die Konzertwerke Henzes lassen sich schwerlich voneinander trennen; vieles ‚wanderte‘ aus dem Konzertsaal auf die Bühne oder umgekehrt, und der spätere Henze vermischte überdies noch mit Bedacht die Genres. Die Komposition Labyrinth über das Theseus-Motiv, 1951 für Wiesbaden entstanden (wo Henze eine Zeitlang künstlerischer Leiter des Balletts war), wurde freilich, entgegen ihrer eigentlichen Bestimmung, 1952 konzertant uraufgeführt, weil sich die Wiesbadener Tanzgruppe inzwischen aufgelöst hatte. Seither gehört das Werk zu den relativ häufig gespielten Kammerorchesterwerken Henzes. Die vierte Symphonie (mit Singstimmen) wurde 1955 aus dem zweiten Finale der Oper König Hirsch extrahiert – eine zauberhaft-surreale Naturmusik von neoromantisch-voluptuöser Grundhaltung. 1953 verließ Henze die Bundesrepublik Deutschland und siedelte nach Italien über; er lebte bis zuletzt in der Nähe von Rom. Henze entschloss sich zur Auswanderung nicht zuletzt aus politischem Missbehagen an den restaurativen Tendenzen während der Adenauer-Ära. Die weitere Teilnahme an den Darmstädter Ferienkursen wurde ihm dadurch verleidet, dass sich dort eine strenge, materialästhetisch orientierte Komponistenschule etablierte, die Henzes freizügigere und eklektizistische Ästhetik als eine mit der Tradition kokettierende Aberration von der ‚reinen Lehre‘ des Serialismus verwarf. Die (ausgesprochene oder unausgesprochene) ‚Verstoßung‘ durch die Darmstädter Generationsgenossen wurde für Henze zu einem weiteren Trauma. Bis weit in die sechziger Jahre schien er in Bezug auf die Avantgarde ein Außenseiter; gleichzeitig reüssierte er (auch in Deutschland) als erfolgreicher Opernkomponist und Komponiervirtuose. 1959 schrieb Henze (nach Andersen) die Pantomime Des Kaisers Nachtigall, eine neunteilige Orchesterkomposition mit obligater Soloflöte, die auch im Konzertsaal heimisch wurde. 1960 komponierte er für Herbert von Karajan das Orchesterwerk Antifone, das einen dialogischen Gestus aufwies und mit gehärteten Klangkonturen auf die benachbarte Oper Elegie für junge Liebende verwies. Henzes fünfte Symphonie für 2 Kammerorchester, 1962 entstanden, greift das ‚antiphonische‘ Prinzip noch einmal – und nicht zum letzten Mal – auf. Zu den bedeutenderen Orchesterarbeiten jener Jahre gehören Quattro poemi (1955) und Los Caprichos (eine bizarr-beklemmende Orchesterphantasie nach dem Zyklus von Goya), während die Sinfonischen Etüden (1955, umgearbeitet als Drei sinfonische Etüden 1964) und die Telemanniana (1967) eher zu den Gelegenheitskompositionen zu rechnen sind (wenngleich die Orchesteradaptation des Pariser Flötenquartetts Nr. 12 e-moll von Telemann auf eine wichtige Strähne in Henzes Schaffen hinweist, nämlich auf die kreative Neuaneignung älterer Musik).
Die ersten fünf Symphonien Henzes sind Werke, die den geschichtlich problematisch gewordenen Gattungsbegriff nicht weiter reflektieren. Ein Jahr nach der Fertigstellung der Fünften äußerte Henze Gedanken, die zeigten, dass er sich inzwischen durchaus der Probleme eines ‚Symphonikers‘ (der er im strengen Sinn nicht war) bewusstwurde: „Seit fünfzig und mehr Jahren gibt es die Sinfonie, so wie das 19. Jahrhundert sie gesehen hat, nicht mehr. Zwischen Strawinsky und Webern scheint alles, was sich als Sinfonie noch ausgibt, entweder Replik, Nachruf oder Echo zu sein. Es ist, als ob die heutige musikalische Sprache der alten Form nicht mehr mächtig wäre oder als ob die alten Formen über die neue Sprache keine Macht mehr besäßen.“
In den späteren sechziger Jahren verstärkte sich, zunächst unter dem Einfluss linksintellektueller italienischer Freunde, dann durch Kontakte mit der Studentenbewegung, Henzes politisches Engagement. Zweimal reiste der Komponist für längere Zeit in das kommunistische Kuba. Für das Symphonieorchester von La Habana komponierte er dann 1969 seine sechste Symphonie. Das Werk zeigt nicht nur einen in seiner Tonsprache verwandelten, dissonanter und aggressiver gewordenen Henze, sondern lässt auch die gewachsene Verantwortlichkeit gegenüber der ‚großen‘ symphonischen Tradition erkennen. Mit seiner dreiviertelstündigen Spieldauer ist es an Gestaltenreichtum, Beredtheit, perspektivischer Vielfalt und formaler Stringenz den ersten fünf Symphonien weit überlegen. Wieder wird der ‚antiphonische‘ Gedanke aufgegriffen, aber es sind diesmal zwei gewaltige Klangblöcke, die Henze einander gegenüberstellt und vielfach ineinander verschränkt, sodass sich eine komplexe, dicht verzahnte Textur ergibt. Auffällig ist wieder Henzes variable Kompositionstechnik.
Einerseits gibt es vielfache Streicherteilungen analog zu György Ligetis ziselierter Mikropolyphonie. Doch Henze scheut sich vor einer das ganze Material in der gleichen akribischen Weise durchorganisierenden Feinstrukturierung. So nimmt man andererseits gleichsam mit dem Spachtel aufgetragene Farb- und Clusterwirkungen wahr, die von der polnischen Avantgarde angeregt sein könnten. Die Symphonie enthält auch einige ‚aleatorische‘, in ihrer zeitlichen Koordination nicht genau fixierte Passagen – in sich bewegte Farb-Felder. Lyrische Privatheit, in jener Zeit bei Henze in den Hintergrund tretend, kommt auch in der sechsten Symphonie kaum noch zum Durchbruch. Wilde, abrupte, bizarre Charaktere überwiegen. Das reflektiert kämpferisch-energetische und antagonistische Moment in der kubanischen Revolution, der sich Henze loyal verbunden fühlte (wenngleich er auch bitteren Erfahrungen nicht aus dem Wege ging). Es hat aber auch mit der karibischen Situation zu tun, der aus vielen Quellen sich speisenden musikalischen Sphäre des mittelamerikanischen Raums, die Henze in all ihren Bestandteilen zu erfassen und in einem weiteren Synthetisierungsversuch (in den er sich selbst als Europäer einbringt) zu verschmelzen unternimmt. Das Sinnlich-Evokative und mitunter sogar Theaterhaft-Direkte einer Partitur, die sich zuallerletzt als hochgelehrte Übung verstünde, kommt schließlich durch in der emblematischen Verwendung kubanischer und vietnamesischer Freiheitslieder. Wahrscheinlich hatte Henze (trotz so groß angelegter Stücke wie der fünfstündigen Oper König Hirsch) bis dahin niemals ein so kompliziertes Werk geschrieben; so gehört die sechste Symphonie seither zu den Stücken, die er immer wieder selbst analysiert und um deren analytische Durchdringung er sich leidenschaftlich bekümmert.
Die nächste große Orchesterkomposition war Heliogabalus Imperator, eine Allegoria per musica, tondichterische Beschwörung des römischen Kaisers, der im dritten nachchristlichen Jahrhundert einen orientalischen Steinfetisch nach Rom brachte und den damit verbundenen orgiastischen Kult einzusetzen beabsichtigte, wobei er mit dem noch lebendigen Traditionalismus seiner Landsleute in Konflikt kam, scheiterte und ermordet wurde. Das Thema berührt sich von fern mit Henzes Oper Die Bassariden und seinem Orpheus-Ballett. Der Zusammenprall von mysterienhaftem Hedonismus und ‚puritanischer‘ Moral gehört zu den ‚concetti‘, die auf Henze stets Anziehungskraft ausübten. Die Partitur zählt zum Avanciertesten, was Henze je schrieb – zumindest was die Binnenstruktur des Tonsatzes betrifft, der wieder zahlreiche ‚aleatorische‘ Elemente aufweist; ein etwas pompöser Heldenleben-Habitus ist dem Stück freilich auch nicht abzusprechen. Es entstand für das Chicago Orchestra und seinen Chef Sir Georg Solti.
Zwei Kompositionen, die den Genrerahmen völlig sprengen, sollten hier unbedingt erwähnt werden: das zweite Violinkonzert (1971), das mit dem Einbezug von Tonbandklängen und der Rezitation des Gedichts Hommage à Gödel von H. M. Enzensberger so etwas wie lehrstückhaftes konzertantes Theater ist; ähnlich vielschichtig und ‚synthetisch‘ und vom Ausdruck her noch dringlicher ist Tristan, ein Prélude für Klavier, Tonbänder und Orchester, das in seiner exhibierten formalen Disparatheit Grenzbereiche der Henze‘schen Expressivität erfahrbar werden lässt. Neben solchen ambitionierten Werken entstanden immer auch bescheidener dimensionierte Arbeiten für Kammerorchester wie die Drei Dithyramben (1958), Sonata per archi (1958) oder die zu einer Fantasie für Streichorchester bearbeitete Musik zu Volker Schlöndorffs Film Der junge Törless (1966). Ein Gruß an den antifaschistischen griechischen Kollegen war die 1967 komponierte Freiheitshymne für Streichorchester, die eine Melodie von Mikis Theodorakis zum Gegenstand hatte. Zu Henzes jüngsten Hervorbringungen zählt An eine Äolsharfe (1986) für 15 Soloinstrumente und konzertierende Gitarre, instrumentale Meditationen über vier Mörike-Gedichte, die sich zu einer Kammersymphonie fügen.
1984 beendete Henze seine siebente Symphonie, die zu seinen bedeutendsten Arbeiten und zu den gewichtigsten neueren Auseinandersetzungen mit dem Problem der Symphonie gehört. Sie wurde im Auftrag der Berliner Philharmoniker geschrieben. Das Spiel dieses Orchesters hatte Henze beim Komponieren vor seinem inneren Ohr; es wurde ihm zur Richtschnur, „alle Register des Orchesters voll“ zu ziehen, „die ungemein vielfältige Farbskala, akustische Reichweite und Differenzierung“ dieses Klangkörpers als Sujet und Transportmittel musikalischer Inhalte einzubeziehen. Die vier Sätze, von fern dem tradierten Formprinzip entsprechend, ähneln im Verlauf einander: Aus der Ruhe heraus entwickeln sie gewaltige Spannungen und Turbulenzen, erlangen sie enorme Dichtegrade, und es kommt zu Klangmassierungen, die wie bedrohlich aufragende Urgestalten anmuten (Akkordtürme des zweiten Satzes, Metamorphosen des Bruckner‘schen Blechchorals, aus der religiösen Sphäre transponiert ins Panisch-Archaische oder auch Endzeitlich-Katastrophische) oder latente Tanzbewegung jäh zum dionysischen, gleichsam selbstzerstörerischen Taumel hinlenken (die aberwitzige Schlussphase des dritten Satzes). Relativ zurückgenommen mutet das Finale an, das in einen Tutti-Schrei einmündet, dem ein langes, leises Echo nachfolgt. Eine ‚letzte‘ Symphonie im Mahler‘schen Sinn, ein ‚Alterswerk‘ auch, unendlich reich an Ausdruckserfahrung, souverän gestaltet bis ins Detail, aber auch voller Ungestüm, irisierender Maskenhaftigkeit, schonungsloser Verzweiflung, Willensanspannung, integrativer Kraft.
1996 veröffentlichte Henze unter dem Titel Reiselieder mit böhmischen Quinten seine zwar nicht ersten, bis dahin aber ausführlichsten, die ganze Lebenszeit umspannenden „autobiographischen Mitteilungen“, die in ihrer betont versöhnlichen, abgeklärten Diktion zweifellos an Goethes Dichtung und Wahrheit als großes Vorbild denken lassen – mit generöser Geste werden die kleinen Dinge des Lebens und des Alltags mit ihren mannigfachen Bezügen zum Werk gewürdigt. Auffällig hier das erneute Anknüpfen an schöngeistige und klassizistische Intentionen der frühen Jahre; sie bestimmten auch das Opernprojekt Venus und Adonis (dessen Librettist Hans-Ulrich Treichel quittierte die nicht immer unproblematische Zusammenarbeit mit dem schillernden Schlüsselroman Tristanakkord). Gleichzeitig entstand 1992 – 94 die achte Symphonie, eine orchestrale Imagination des Shakespeare‘schen Sommernachtstraums in drei Sätzen. Henze wollte eine „leichte, verrückte“ Musik schreiben und erneut der Sehnsucht nach dem „großen Gesang“ folgen: „Es geht um Friedensschluss und Versöhnung, Verbrüderung, auch mit mir selbst, und die Geste dazu wird gemacht von einem, der die Ruhe liebt und sucht“. Nach der konvulsivischen Siebten war diese Hinwendung zu entspannter Musikalität erst recht verständlich. Aus dem zunächst komponierten dritten Satz wurde auch der erste thematisch entwickelt; Puck und Oberon sind hier die Drahtzieher der feinsinnigen instrumentalen Gaukeleien, die den Henze‘schen Orchestersatz in seiner ganzen filigranen Transparenz präsentieren. Im Mittelsatz changiert die Stimmung zwischen den Betörungen des Eros und den Exzessen des Irrtums, geht es doch um Titanias prekäre Liaison mit dem in einen Esel verwandelten Zettel, eine jener dramaturgischen Wahn-Einfädelungen Shakespeares, die das Derbkomische (Henze lässt die konzertierende Posaune förmlich wiehern) mit dem Unheimlichen und Halbtragischen verknüpfen.
Während die achte Symphonie aus der Welt des Theaters kommt (vielleicht der ureigenen Sphäre Henzes), stellt sich die Neunte (1995 – 97) den höchsten Gattungsansprüchen, die mit dieser ‚magischen‘ Ziffer verbunden sind. Wie schon gesagt, verstand sich Henze eigentlich nicht in erster Linie als ‚Symphoniker‘; die traditionell-repräsentative Gattung absolvierte er in den Symphonien 1 bis 5 – bei allem Einfallsreichtum und zunehmender Meisterschaft – quasi beiläufig, und erst die Symphonien 6 und 7 konnten als Großformate und ‚existentielle‘ Hervorbringungen gelten. Das Erreichen der Neunzahl rief bei Henze (neben verständlichen Ängsten) einen gesteigerten Ehrgeiz hervor; hier war nun ernstlich Ultimatives avisiert, wie es Beethoven, Bruckner und Mahler in ihren letzten vollendeten Symphonien exemplifiziert hatten. Von Beethoven übernahm er die Öffnung zur Großkantate; deren inhaltliche ‚Füllung‘ orientierte sich indes an einem aktuelleren Beispiel, nämlich der Deutschen Symphonie von Hanns Eisler. Henze entdeckte in Anna Seghers‘ Roman Das siebte Kreuz ein Textpotential, das seinem nach wie vor politisch geschärften Geschichtsbewusstsein entsprach. Nochmals versicherte er sich der Mitarbeit Treichels, der bei der Umformung in eine siebensätzige dramatische Bilderfolge über das Schicksal junger Antifaschisten in den ersten Jahren des Hitlerregimes half: „Wir identifizieren uns mit diesen unseren Landsleuten von damals, errichten ihnen, den vergessenen Helden des Widerstands, ein neues Denkmal. Und ich rufe mir die Ängste und Schmerzen meiner Kindheit, meiner Jugend zurück...“ (Henze). Es wurde eine ernste, große, ambitionierte, beladene, engagierte, eine in jedem Sinne ‚deutsche Symphonie‘, durchaus so etwas wie ein musikalisches Gegenstück zu Peter Weiss‘ monumental-romanesker Ästhetik des Widerstands. Mit seiner neunten Symphonie beweist Henze außerdem, dass die Phase der ‚Politisierung‘ in seinen mittleren Jahren keine folgenlose Episode war. Es wäre zu wünschen, dass dieses angespannte und repräsentative, wenngleich alle ‚offiziellen‘ Tonfälle überflügelnde Werk als Fest- und Gedenkkomposition eine herausragende Rolle in der deutschen Erinnerungskultur einnehmen würde. Zeigt sich hier der vermeintliche Weltbürger Henze nicht auch als der denkbar innigste Patriot?
Zu Henzes bedeutendsten Werken zählt das 1990 – 92 komponierte neunsätzige Requiem für Klavier solo, konzertierende Trompete und großes Kammerorchester. Es leuchtet ein, dass der keinem Kirchenglauben anhängende Autor auf den traditionellen liturgischen Text der christlichen Totenmesse verzichtete. Indem er ein rein orchestrales Stück schrieb (in dem zwei Soloinstrumente eine besondere dramaturgische Funktion haben), gab er dem Typus Requiem zugleich eine originelle, einmalig persönliche Wendung. Die ehrwürdigen lateinischen Titel wurden dabei teilweise auch ‚innerweltlich‘ umgedeutet; das Dies irae markiert durchaus reale Schrecken, und das Ave verum corpus stellt „das Bild eines schönen Menschenleibs vor Augen, der von Hölderlin‘schen Sommerflecken und hochmodernen Schwären ganz bedeckt“ erscheint. Instruktiv auch Henzes eigener Kommentar zum Rex tremendum, in dem statt ehrfurchtgebietender göttlicher Übermacht etwas sehr viel Näheres geschildert wird. Hier „hören wir durch den verstärkenden Trichter der Trompete übertragen die Stimme eines Herrschers, eines Kommandanten... in einem schnarrenden Kommandoton, unter Benutzung eines Vokabulars, das bis zum Komischen ordinär ist, aggressiv-spießig“. Im Requiem geht Henze des Weiteren seiner alten Idee von der „Sprachfähigkeit“ der Musik nach: Töne und Tongestalten sollen verständlich sein wie Sprache. Besonders geglückt scheint das in einem Satz wie dem Lacrimosa, Porträt des trauernden, leidenden, weinenden Menschen. Es geht dem Humanisten Henze in seinem Requiem um nichts Anderes als Menschlichkeit. Der unmittelbare Anlass zur Komposition war der frühe Tod des Freundes Michael Vyner, des Direktors der London Sinfonietta.
Hans-Klaus Jungheinrich