Symphonie Nr. 9

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t1 Konzertführer
Gustav Mahler
Symphonie Nr. 9

„Tradition ist Schlamperei.“ Wir wissen, dass hinter Mahlers apodiktischer Verurteilung jeglicher Routine eine Not stand, dass Mahler sich, wie er mehrfach äußerte, als ein „ewiger Anfänger“ fühlte, dem keine musikalisch-technische Errungenschaft, kein äußerer Erfolg, keine einmal gewonnene Erkenntnis anhaltende Gewissheit verlieh. Das mag seine unablässig bohrende Intensität in jedem neuen Werk, aber auch die vielzitierte ‚Gebrochenheit‘ seines Tons mit erklären. Zwar fand Mahler unter der Hand dennoch zu einem unverwechselbaren Stil, dessen konsequente Entwicklung wir überschauen können, aber dieser ‚Stil‘ ist mehr eine Rinden- oder Ablagerungsschicht, die wie eine Spur Zeugnis ablegt von den inneren Verwerfungen. Die Abfolge von Mahlers Symphonien sind nicht als stetige Entfaltung einer musikalischen ‚Weltanschauung‘ zu verstehen – stetig ist bei Mahler nur die suchende Weltentzweiung –, sondern als diskontinuierliche ‚Entwürfe‘, die der bleibenden Ungewissheit zu entspringen suchen. So erklärt es sich, dass der Ton kosmischer Bejahung, mit dem die achte Symphonie schließt, bei der neunten Symphonie nicht mehr zu Gebote stand. Die Neunte ist wieder eine ‚Untergangs- und Auferstehungs‘-Symphonie, derart aber, dass die Untergangsvisionen den nachhaltigeren Eindruck hinterlassen.

Kenntlich wird das Programm in dem ungeheuren Sprung vom dritten Satz, der Rondoburleske, zum Finale. Die Burleske ist ein mephistophelisches Stück Musik, eines der schwärzesten, die Mahler geschrieben hat: ein manisches Perpetuum mobile in höhnisch-polyphonischer Verrenkung wechselnd mit Partien, die der Caféhaus-, Kurkonzert- und ‚Blasmusi‘-Sphäre entstammen und die für Mahler stets den innersten der Höllenkreise zu vertreten scheinen. Dieses infernalische Treiben wird jedoch stillgelegt in einer langen ‚exterritorialen‘ Partie; Bestandteile der Fugenthematik finden sich jäh umgedeutet zu einer ätherischen Gegenwelt. Eine neue Themengestalt wird breit exponiert (kurz vorher im Fugato-Teil hatte sie sich unauffällig angekündigt, Takte 320ff), zentriert um eine gedehnte Doppelschlagfigur von pathetischem Ausdruckswert. Die Stelle ist als sehnsüchtiger Ausblick gemeint in ein – noch unerreichbares – Jenseits. Aber während hier das Doppelschlagthema sich nicht gegen die alsbald einsetzende Verspottung und Verzerrung behaupten kann, tritt es dann im Finale von Anfang an in ungebrochener Präsenz auf; es durchdringt die weit ausholende, gestische Polyphonie des ganzen Schlusssatzes (die Urgestalt erscheint indessen nur ein einziges Mal und ebenso beiläufig, wie sie im Allegro der Burleske sich ankündigte, siehe die zwei Violinen in Takt 24). Eine jenseitige Polyphonie, die bei aller Expressivität das Volumen jeder ‚Einfühlung‘ übersteigt. Dabei sind es einfachste musikalische Elemente, längst ausgebrannte Floskeln (wie der Doppelschlag), die in gigantischer Langsamkeit noch einmal zum Glühen gebracht werden.

Mahlers durchgängiges Verfahren der Ausschlachtung von musiksprachlichen Elementarteilen – sei es zur pathetischen Überhöhung wie im Finale, sei es zum Zweck dämonischer Parodie – hängt untergründig zusammen mit seiner Erfahrung „ewigen Anfängertums“. Denn es scheint, als sei diese subjektive Erfahrung nur die Kehrseite eines geschichtlichen Zwangs, Spiegelung des Zerfalls der Musiksprache. Mahler konnte ihn nicht aufhalten, obwohl gerade er auf das, was jene ‚Sprache‘ leistete – Allgemeingeltung und -verständlichkeit – nicht verzichten wollte. So versammelte er im Register seines Werkes Elemente aus der ganzen Breite des Musiklebens, versicherte sich derart der versiegenden Quellen der ‚Sprache‘, aber er komponiert gleichzeitig den Zerfall, das Entgleiten aller gesicherten ‚Intonationen‘ mit hinein: im Scherzo mit einer montageartigen Schärfe, die auf Strawinskys verkantete Dekonstruktionstechnik vorausweist. So banal die Motive der drei zugrundeliegenden Charaktere des gemächlichen Ländlers, des Walzers und des sehr langsamen Ländlers sind, so komplex ist die syntaktische Schachtelung. Aber der langsame Ländler, der eine tänzerische Neuprägung des Hauptthemas aus dem Eröffnungssatz ist und sich als wehmütiges Rückerinnern zwischen das ungute Walzertreiben schiebt, beherrscht den Satz immer mehr. Aus dem kläglich zerstückten Tanz weicht am Ende jede Aggressivität; der Verfall wird zum Ausdruck rückhaltloser Trauer.

Im großen Andante, dem überragenden Eröffnungssatz, gewinnt der Sprachverfall die Macht einer höheren, ins musikalische Geschehen eingreifenden Gesetzlichkeit. – Diese Gesetzlichkeit überformt das Geschehen des Sonatenschemas. Ein Dualismus von Themenvarianten – Dur und Moll – lagert sich in die drei großen Formenabschnitte ein. Die energische Moll-Variante ist es, aus der die großen Steigerungen hervorgehen, die mit Regelmäßigkeit auf ihrem Höhepunkt zum Einsturz gebracht werden. Die Durchführung wird beherrscht vom Bewegungsgesetz des Ganzen ‚Auflösung/Sammlung – Steigerung/Zusammenbruch‘, das getrennt je einmal an der Dur- und Moll-Gruppe vollstreckt wird, dann, bei der Kulmination des Satzes insgesamt, an beiden Themengruppen gemeinsam. Die ‚Reprise‘ bedeutet hier endgültige Auflösung; der energische Aufstieg des zweiten Themas bleibt im sich verheddernden Stimmengeflecht stecken, mit zögernder Fragmentarisierung des ersten schließt der Satz, rückblickend, Abschied nehmend. – Ist Mahlers neunte Symphonie, wie Alban Berg schrieb, „ganz auf Todesahnung gestellt“, so sollten wir uns hüten, die gewaltige symphonische Inszenierung dieser Ahnung biographisch zu verkürzen. Denn Mahlers Symphonik erhebt Anspruch auf äußerste Allgemeinheit, Komponieren hieß ihm bekanntlich: „mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln eine Welt bauen“. Die große Vision des Scheiterns, die hier heraufbeschworen wird, betrifft folglich ebenfalls diese „Welt“, und das ‚Subjekt‘ der Symphonie ist nicht das Individuum des Komponisten, sondern die Gattung Mensch. So berühren Mahlers Todesahnungen – obwohl noch nicht in ihrer Sprache abgefasst – sich mit den apokalyptischen Visionen der jungen Expressionisten, die mit seismographischer Empfindlichkeit Jahre vor dem Krieg die Entfesselung der Menschheit ins Auge fassten. Nur fehlt bei Mahler jene latente Bejahung des Untergangs, die viele Expressionisten später jubelnd in den Krieg ziehen ließ...
Michael Querbach

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.