Symphonie Nr. 6 a-moll Die Tragische

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t1 Konzertführer
Gustav Mahler
Symphonie Nr. 6 a-moll Die Tragische

Konnte Mahlers ‚symphonisches Ich‘ in der Fünften den kräftezehrenden Auseinandersetzungen mit der harten Lebensrealität, dem ‚Ringen mit der Welt‘ noch einmal entfliehen, um in der entrückten Höhenidylle der letzten beiden Sätze Ruhe und Trost zu finden und neue Lebenskraft zu schöpfen, so endet dieser Lebenskampf, der in der Sechsten erneut und noch heftiger aufflammt, hier hoffnungslos und katastrophal, mit dem Untergang des Helden. Mahler selbst nannte seine sechste Symphonie „tragisch“ und ließ sie als einzige seiner Symphonien im düsteren Moll der Haupttonart enden, wobei die dunkle Vorsehung dem verzweifelt um sein Glück ringenden ‚Helden-Ich‘ ganz am Ende einen letzten entscheidenden Schicksalsschlag versetzt, der, erschreckend und sensationell zugleich, auch den unvorbereiteten Zuhörer trifft, als wolle ihm Mahler diese Erkenntnis mit allem Nachdruck mit auf den Weg geben. Zuvor schon hat in diesem grandiosen Finale, dem konzentriertesten, aussagestärksten Schlusssatz Mahlers, das unerbittliche Schicksal dreimal zugeschlagen und den „Helden“ „wie einen Baum... gefällt“ (so Alma Mahler über Mahlers eigene Deutung); angezeigt durch drei brutale Hammerschläge, von denen der abergläubische Mahler nach der Essener Uraufführung im Jahre 1906 den entscheidenden dritten wieder wegließ, wohl um nicht sein eigenes Unglück heraufzubeschwören. Wenn das minuziös auskomponierte dreimalige Scheitern des Helden die Vorahnung eigenen Loses gewesen sein soll, wie viele mutmaßten, so hat Mahler die späte Streichung des dritten Hammerschlags (in Takt 783 des Finales) in Wirklichkeit wenig genützt. Denn bereits ein Jahr darauf trafen den Komponisten drei herbe Schicksalsschläge, von denen er sich nicht mehr erholen sollte: Das unrühmliche Ende als Wiener Hofoperndirektor, der Tod seiner vierjährigen Tochter Anna und die Diagnose seiner schweren Herzkrankheit.

Dennoch sollte man sich davor hüten, in der Sechsten wie auch in den anderen Symphonien Mahlers lediglich wüste Selbstbespiegelungen eines seelisch Zerrissenen, Verzweifelten zu sehen, auch wenn Mahler uns hier wieder, auf dem vergleichsweise strengen, kanonischen Boden klassischer Viersätzigkeit eine Geschichte erzählt, ein neues, düsteres Kapitel seines gewaltigen symphonischen Epos aufschlägt. Aber was er uns da erzählt, in grellsten Tönen und unter Zuhilfenahme des größten Orchesterapparats, den er je gebrauchte, hat mehr denn je objektiv-musikalischen Charakter, findet weitab von programmatischen oder literarischen Vorbildern ausschließlich in der Komposition statt, als rein musikalischer Konflikt auf satztechnischer Ebene. Deutlicher denn je wird in der Sechsten die autonome symphonische Tradition, das viersätzige klassische Modell mit Kopfsatz, Scherzo, langsamem Satz und Finale, zur Grundlage und zum Thema einer Symphonie Mahlers. Das Resultat kann als geglückter Versuch bezeichnet werden, das eigene, epische, erzählerisch-visionäre Konzept mit der strengen, abstrakten Vorgabe des klassischen Typus zu konfrontieren und beides ästhetisch zusammenzuzwingen, dem Vorbild Bruckners nacheifernd – daher der Eindruck von geballter, wuchtiger Geschlossenheit.

Die Sechste ist Mahlers realistischste Symphonie, sie ist der brutalen Lebenswirklichkeit, der sich Mahler ausgeliefert sah, näher als die anderen Symphonien, und sie gewährt der imaginären Weltflucht Mahlers wenig Raum. Lediglich im ersten Satz kehrt die Alpenidylle mit Herdenglocken und Höhenluft eine Weile wieder, doch wirkt dies, wie auch der entrückte, schwerelose Schwebezustand des langsamen Satzes, bereits wie der Traum, die Sehnsucht eines im Strudel des rauhen (Großstadt-) Lebens aussichtslos Gefangenen. Das Glück ist nur herbeigeträumt, ebenso wie das leidenschaftliche Seelenporträt Alma Mahlers im Seitenthema des ersten Satzes, das schließlich der Realität des allen verschlingenden starren Marschrhythmus (des Hauptthemas) weichen muss. Hier, im Kopfsatz von Mahlers Sechster, kündigen sich die ersten Signale jenes Marsches an, der acht Jahre später ganz Europa in einen der verheerendsten Kriege seiner Geschichte führen wird.
Attila Csampai

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.