Symphonie Nr. 4 G-dur

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t1 Konzertführer
Gustav Mahler
Symphonie Nr. 4 G-dur

Nach dem hochfliegend-pathetischen Grundton seiner ersten drei Symphonien, die er selbst gelegentlich als seine „Trilogie der Leidenschaft“ bezeichnete, folgte Mahler einem idyllisch-humoresken Impuls, schlüpfte unter die Narrenkappe und entwarf eine aufreizend naive musikalische Bilderwelt, die von Anfang an die Zuhörer befremdete. Ursprünglich als Schlusssatz der dritten Symphonie unter dem programmatischen Vermerk Was mir das Kind erzählt geplant, wurde ein bereits 1892 komponiertes Lied, die Humoreske Das himmlische Leben, ein bayerisches Kinderlied vom himmlischen Schlaraffenland, das in Des Knaben Wunderhorn unter dem Titel Der Himmel hängt voll Geigen zu finden ist, zum Ausgangspunkt einer neuen Symphonie. Stieg die dritte Symphonie gewissermaßen vom Urgestein zur höchsten Bewusstseinsstufe auf, so setzt die vierte jenseits solcher Reflexionsstufen an, bei der „Heiterkeit einer höheren, uns fremden Welt, die für uns etwas Schauerlich-Grauenvolles hat“ (Mahler), die aber dem Kind, „welches im Puppenstand dieser höheren Welt schon angehört“ (Mahler) durchaus zugänglich ist. Das Lied ist die Keimzelle der gesamten Symphonie: Mahler komponierte gleichsam von rückwärts. Ein Liedfinale in einer Symphonie, das kam allerdings bisher nicht vor. Und mehr noch: In ihm verbirgt sich der Schlüssel zum Verständnis der Symphonie: „Im letzten Satz erklärt das Kind [...], wie alles gemeint sei“ (Mahler).

Der gewöhnliche Konzertgänger dürfte sich noch heute irritiert fühlen von der Art, wie hier der symphonische Anspruch, gegen die Erwartung, durchgesetzt wird mit einem musikalischen Tonfall, der eher an Kindermusik erinnert, als dass er etwas gemein hat mit der ‚hohen‘ Musik, die sonst im Konzertsaal erklingt. Wie kann denn ein anspruchsvolles symphonisches Werk mit Schellengeklingel beginnen und obendrein mit einem Thema, das gar keines ist, sondern montiert wurde aus zwei Schubertschen Motiven und wie Haydn klingt? Die Narrenschelle des Anfangs scheint zwar ein Signal zur Schlittenfahrt zu sein, möglicherweise in ein musikalisches Märchenland, aber die ersten Motivfloskeln vor dem seltsamen ‚Thema‘ stehen befremdlich in der ‚falschen‘ Tonart h-moll. Heißt es nicht, die Symphonie gehe aus G-dur? Das erste Thema steht dann auch tatsächlich in dieser Tonart, aber erst müssen wir selber unter die Narrenkappe, um uns in die fremde und doch auch wieder eigenartig vertrauliche musikalische Welt einführen lassen zu können. Nach einem solchen Anfang sollten wir jedoch auf alles gefasst sein.

Mit einem Kunstgriff hat Mahler alles verkleinert und dadurch in Distanz zu uns gerückt, ja, die Narrenkappe, die er sich aufgesetzt hat, bedeutet auch die Stilmaske, hinter der die Wahrheit – jedenfalls vorerst – verborgen bleibt. Gerade das Vertraute an der Musik befremdet hier; die Musik redet in Anführungsstrichen. Gleichzeitig erinnert sie uns ans eigene Kindergefühl vor dem Unbekannten, an den Reiz des Fremdartigen. Es klingt weder echt noch gar falsch, eher so, wie Kinder die Musik der Erwachsenen hören. Dass es hier kaum kindisch zugeht, macht der weitere Verlauf des Satzes deutlich: „Der erste Satz beginnt, als ob er nicht bis drei zählen könnte, dann aber geht es gleich ins große Einmaleins und zuletzt wird schwindelnd mit Millionen und aber Millionen gerechnet“ (Mahler). Die Musik steht von Anfang an auf doppeltem Boden, und die Narrenschellen sind ihre Anführungszeichen. Der mit Mahler befreundete Dirigent Willem Mengelberg hat Mahlers Probenanweisung zum Auftakt des Hauptthemas – wenn es denn eines ist – überliefert: „Bitte spielen Sie das so, als ob wir in Wien einen Wienerwalzer anfangen.“ Dabei ist die Taktart des Satzes gerade kein Walzertakt, sondern ein Viervierteltakt! Es kommt also auf das ‚Als ob‘ dieses scheinbaren Walzeranfangs an; so subtil ist Mahlers Verfremdungstechnik in seiner seraphischen Symphonie.

Sie „schüttelt nichtexistente Kinderlieder durcheinander“, meint Adorno und hüllt sich in den Schein von Simplizität, der sich als „Spiel im Spiel“ entpuppt. Nichts ist buchstäblich zu nehmen in diesem verkleinerten musikalischen Welttheater, einem merkwürdigen Spiel von Leben und Tod oder von Wirklichem und Möglichem, unter der Maske des Naiven, wie etwa im Bauerntheater oder in der Kinderphantasie. Der erste Satz hieß denn auch ursprünglich Die Welt als ewige Jetztzeit, der das „himmlische Leben“ des Liedfinales als Deutung gegenübergestellt wird. Der zweite Satz verwandelt die gebrochene Serenität des ersten in schier haarsträubend Sinistres: Nach Mahlers eigener Aussage spielt hier der Tod auf. Um den Effekt des Schauerlich-Fremdartigen erreichen zu können, schreibt Mahler vor, dass die Solovioline um einen Ton höher als normal gestimmt werden müsse, damit sie „schreiend und roh“ klinge, eben wie wenn der Knochenmann zum makabren Tanz aufspielt. Der angstvoll gepresste Ton von Straßenfiedeln ist es, den Mahler im Ohr hatte und in die Konzertsaalmusik einführte.

Der langsame Satz (Ruhevoll) richtet sich an den hohen Kunstverstand und liefert, wie Paul Bekker erkannte, die „Entscheidung über den Gesamtcharakter des Werkes: über die Frage, ob das Spiel der beiden ersten Sätze eben nur unterhaltsames Spiel sei oder ob ihm eine in der Maske der Heiterkeit verborgene Tiefe des Lebens- und Weltgefühls zugrunde liege“. Die kunstvolle Metamorphosentechnik des ersten Satzes führt hier zu einem Variationssatz über zwei auseinander hervorgehende Themen, die sich nur dem Tongeschlecht nach unterscheiden. Doch der Schlüssel zur Werkkonzeption wird auch hier noch nicht geliefert. Einzig kurz vor dem ätherischen Schluss (auf der Dominante, also ‚offen‘) leuchtet, in einem unbeschreiblichen Salto mortale ästhetisch sehr gewagter Art, als Vision die mögliche Wahrheit auf, jenes Motiv aus dem Liedfinale, das bereits die Durchführung des ersten Satzes bestimmte, dort freilich fratzenhaft verzerrt oder mit übertriebener, lärmender Lustigkeit das Ende der Durchführung herbeizwingend, während es jetzt wie ein deus ex machina, als Epiphanie unvermittelt ins Geschehen einbricht.
Nach dem musikalischen Doppelpunkt, den der ‚offene‘ Schluss des langsamen Satzes erreicht hat, enthüllt eine Frauenstimme mit „kindlich heiterem Ausdruck“ (Mahlers Partituranweisung), dass das „himmlische Leben“ nur die Fortsetzung des irdischen sei. Hintergründiger hätte der Verlust an positiven Jenseits-Vorstellungen nicht ausgedrückt werden können. Dieses Schlaraffenland hält zwar alle Speisen bereit, aber auch genau die Gewalt und das Blutvergießen, das im „weltlich' Getümmel“ seine profunde Rolle spielt. Und die ‚himmlische‘ Musik ist zwar mit der ‚irdischen‘ unvergleichbar, aber wir können sie nicht hören. Am Ende schläft die Musik so paradox zum Textinhalt („dass alles für Freuden erwacht“) ein, dass niemand glaubt, sie würde jemals wiedererwachen.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.