Symphonie Nr. 3 d-moll

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t1 Konzertführer
Gustav Mahler
Symphonie Nr. 3 d-moll

In den Sommern 1895 und 1896 komponierte Mahler eine Symphonie von bis dahin unerhörtem Ausmaß und inhaltlichem Reichtum. Er war, fünfunddreißigjährig, auf dem ersten Gipfelpunkt seiner kompositorischen Entwicklung angelangt und warf nun, jenseits der jugendlichen Weltschmerzproblematik der ersten Symphonie und der säkularisierten Erlösungsthematik der zweiten, einen Blick auf die Welt als Ganzes, als Natur und Leben, betrachtete sie „nicht mehr vom Standpunkt des ringenden und leidenden Menschen aus“, sondern fühlte sich „in ihr eigenstes Wesen hinein versetzt“ (Mahler im Gespräch mit Natalie Bauer-Lechner), kurz, die Darstellung der unbelebten und belebten Natur und die Vielfalt des Weltgetümmels selbst mit all seinen Widersprüchen rückten ins Zentrum einer neuartigen Evolutions-Symphonie, die Ernst machte mit Mahlers Vorhaben, ihm bedeute das Komponieren einer Symphonie das Aufbauen einer ganzen Welt. Zunächst konzipierte er sieben Sätze, verzichtete aber schließlich auf den letzten, das bereits 1892 geschriebene Lied Das himmlische Leben, das später zum Ausgangspunkt der vierten Symphonie wurde.
Den endgültigen Stufenplan der dritten Symphonie verglich Mahler in einem Brief vom 6. August 1896 an Max Marschalk, unmittelbar nach Fertigstellung des Werkes, mit einem Sommermittagstraum, der in sechs Stationen (‚Pan erwacht - Der Sommer marschiert ein‘, ‚Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen‘, ‚Was mir die Tiere im Wald erzählen‘, ‚Was mir der Mensch erzählt‘, ‚Was mir die Engel erzählen‘ und schließlich ‚Was mir die Liebe erzählt‘) die Totalität der Welt einzufangen sucht oder, wie Mahler andernorts erläutert, „die stetig sich steigernde Artikulation der Empfindung vom dumpfen starren, bloß elementaren Sein (der Naturgewalten) bis zum zarten Gebilde des menschlichen Herzens, welches wiederum über dieses hinaus (zu Gott) weist und reicht“, zur Darstellung bringt, freilich nicht im deskriptiven, programmatischen Sinn, sondern als für sich sprechende Musik. Im Gegensatz zu den erst nachträglich, dem Gebot der Zeit gehorchend, formulierten Programmen der ersten beiden Symphonien (in den Druckausgaben jedoch wieder getilgt) gehören die insgesamt acht (!) Titelskizzen der dritten Symphonie und weitere Eintragungen in die handschriftliche Partitur zunächst zur Werkkonzeption dazu, aber nur als Anregungen, nicht etwa als Inhalt der Musik. Dass die Titelskizzen etwas von dem verraten, was Mahler während der Komposition bewegte – Mahler: „Man ist sozusagen selbst nur ein Instrument, auf dem das Universum spielt“ –, dürfte unbestreitbar sein, doch sie konnten, wie es Bruno Walter formulierte, genauso gut wieder fortgelassen werden, „wie man ein Gerüst entfernt, wenn das Haus fertig ist“. Dem Assoziationsfeld der Phantasie des Zuhörers wollte Mahler auch nirgends eine Grenze setzen und empfand schließlich alle programmatischen Wegweiser als überflüssig, ja unzulässig. Und es ist durchaus legitim, dass Richard Strauss beim ersten Satz, entgegen Mahlers ursprünglichen Programmintentionen, die Vorstellungen von „unübersehbaren Arbeiterbataillonen“ haben konnte.

Einer der Werktitel lautete, in scheinbarem Anklang an Nietzsche, Meine fröhliche Wissenschaft, und der vierte Satz, bei dem der Mensch, als Stufe der mit Bewusstsein versehenen, belebten Natur verstanden, in die Entwicklung der Symphonie eintritt, ist sogar die Vertonung von Worten Nietzsches aus Also sprach Zarathustra (Das andere Tanzlied), aber in der eigenwilligen musikalischen Sicht Mahlers, die man als Kritik an Nietzsche auffassen könnte. Verständlich wird dieser Vorgang jedoch erst im Zusammenhang mit dem fünften Satz, einer Vertonung des naiv-frommen Armer Kinder Bettlerlied aus Des Knaben Wunderhorn, das im musikalischen Kindertonfall vorgetragen wird: „Mahler drehte den Spieß um, gab Nietzsche eine christliche Musik und säkularisierte das gläubige Wunderhornlied“ (Wolf Rosenberg); Musik und Text verhalten sich paradox zueinander. Die dritte Symphonie hat demnach weder etwas mit naiver Frömmigkeit zu tun noch mit Nietzsches Philosophie. Mahlers Fröhliche Wissenschaft zielt auf die Zusammenfassung der unversöhnten Bereiche des Weltlaufs, musikalisch gesprochen: der Musikarten in ihrer klassenspezifischen Zuordnung, von denen nur eine, die sogenannte ‚hohe‘, bürgerliche Kunstmusik, die im vierten Satz zur Anwendung kommt, Eingang in den Konzertsaal findet.
Das gleichrangige Nebeneinander aller Musikarten in der dritten Symphonie empfand ein Kritiker bei einer Wiener Aufführung (1904) als skandalös und empörte sich: „Für so was verdient der Mann ein paar Jahre Gefängnis.“ Tatsächlich enthält der riesige Kopfsatz in der Hauptsache den Jargon von Militärmärschen, der zweite nostalgische Konzertsaalmusik, der dritte so etwas wie „Arme-Leute-Musik“ (Dieter Sehnebel), in die als starker Kontrast eine „skandalös gewagte“ (Adorno), biedermeierlich idyllische Posthorn-Melodie (von außen) hineinklingt, der vierte Satz wortgebundene Musik artifizieller Innerlichkeit mit einer Annäherung an den Tonfall von Kirchenmusik, der fünfte eine musikalische Kindersprache, die den hohen Kunstverstand provoziert, und der sechste eine Vermittlung zwischen den Musikarten.

Das gleichsam „demokratische“ Nebeneinander der verschiedenen Musikarten wird gerechtfertigt durch den inneren Stufenplan der Werkkonzeption: Die sechs Sätze sind verteilt auf zwei Abteilungen, deren erste allein der überdimensionale erste Satz umfasst. Diese Aufteilung hat einen inhaltlichen Grund: Der Kopfsatz ist der dynamische Hauptsatz der Symphonie, von dem aus strahlenförmig die statischen Genrebilder der anderen, wesentlich kürzeren Sätze (zwei bis fünf) sich abheben, während der Schlusssatz – freilich auf höchster Bewusstseinsstufe angelangt – den ersten Satz wieder aufgreift und gewissermaßen den Fächer wieder zusammenfaltet. Auf den verborgenen Zusammenhang zwischen erstem und letztem Satz hat Mahler ausdrücklich hingewiesen: „Was dort dumpf und starr“ – Mahler meint die trauermarschartige Einleitung des ersten Satzes – „ist hier zum höchsten Bewusstsein gediehen, die unartikulierten Laute zur höchsten Artikulation geworden.“ Im Schlusssatz deutet Mahler den höchst heterogenen und diskontinuierlichen ersten Satz um zu einem homogenen, ‚geläuterten‘ Klangstrom der höchsten Erfüllung, virtuell zu einem riesigen Einzeltakt. (Das Lied von der Erde, über zehn Jahre später komponiert, ist das genaue, resignative Gegenbild, ja die Zurücknahme der optimistischen dritten Symphonie, denn hier stehen nun die ersten fünf kürzeren Sätze zentripetal dem großen Schlusssatz gegenüber, der nicht, wie in der dritten Symphonie, das Geschehen zusammenfaltet, sondern selber ins Amorphe zerfällt.)
Ursprünglich wollte Mahler die Geschlossenheit des Gesamtaufbaus noch durch unterirdische thematische Beziehungen vertiefen, verzichtete aber doch darauf, sich dadurch in einen Systemzwang bringen zu lassen und wob stattdessen bemerkenswerte Bezüge ein, die über das Verhältnis der Ecksätze noch hinausgehen. Bedeutsam ist dabei der Schluss des dritten Satzes, der Welt der belebten, aber noch ohne Bewusstsein existierenden Natur (Tiere): Hier befindet sich nämlich der innere Drehpunkt der gesamten Symphonie, vor dem entscheidenden Aufstieg in das Reich der Menschen, der ersten Bewusstseinsstufe (wenn man in der Sprache der Programmskizzen Mahlers bleiben will). Nach dem Verklingen der (von außen hereinschallenden) Posthorn-Melodie, also der (fernen) Menschenwelt ins Tierreich, entsteht unvermittelt eine Art „panischer Epiphanie“ (Adorno) der dumpfen Einleitung des ersten Satzes, so als ob sich die Erde selbst regte. Das ist aber nur ein außerordentlicher Augenblick, denn der Satz endet, ebenfalls unvermittelt, mit dem rasselnd-ordinären Tonfall der Arme-Leute-Musik. Im folgenden Satz steht dann kaum eine Phrase, die nicht aus dem ersten Satz stammt: der Mensch – nicht etwa Nietzsches „Übermensch“ – erhebt die Stimme der Natur, bezieht sich in seinem Leiden und Sehnen auf die im ersten Satz noch unartikulierten, vorbewussten Laute, um sie zu verinnerlichen. Ist es nicht geradezu symbolisch zu verstehen, dass Mahler für das Herauswachsen des Menschen aus der Erde eine Altstimme wählte, die ja auch bei Wagner (Erda) den Bereich des Chtonischen vertritt? Es ist die tiefere Absicht des Satzes, dass nun der Mensch innerhalb der Naturevolution ins Geschehen tritt, um die Geschicke in die Hand zu nehmen; daher der Rückgriff auf die elementare Einleitung des ersten Satzes.

Der teleologische Charakter des ersten Satzes (man vergleiche die Titel: ‚Pan erwacht‘ und ‚Der Sommer marschiert ein‘) steht den Zustandsschilderungen der episodischen übrigen Sätze gegenüber. Mit Bedacht nennt Mahler sie Erzählungen, was auch bedeutet, dass es Spiegelungen im Bewusstsein des Komponisten sind (‚Was mir die Blumen‘ etc. ‚erzählen‘). Die Evolution, der Mahlersche ‚Schöpfungsmythos‘, hat ein Sprachrohr gefunden: den Komponisten, der sich als Medium, nicht mehr als herrisches Subjekt begreift. Im ersten Satz hat man stellenweise den Eindruck, er schaue dem wilden Treiben wie ein unbekümmerter Beobachter zu, der sich ebenso wie wir über die „Bocksprünge der Natur“ wundert. Und ist es nicht auffällig, dass die Titelskizzen auf die konkreten Beschreibungen verzichten, wie sie in der Programmmusik der Jahrhundertwende üblich waren, stattdessen jeweils wie ein Motto über den Sätzen stehen?

Während die kleineren Sätze kaum waghalsige Formen entwerfen, geht es genau darum im ersten Satz, dessen unbotmäßige Länge – Adorno meint, hier würde „Form selber schreckhaft-ungeheuerlich“ – übereinstimmt mit ebensolchem Inhalt. Die Musik gerät hier in eine abenteuerliche Ausfahrtdimension, von der niemand weiß, wohin sie führt und wie sie einmal enden wird. (Mahler sprach gelegentlich davon, dass hier die Natur dionysisch aufgefasst würde, nicht idyllisch.) Doch gerade der Schluss ist ingeniös auskornponiert: Der gesamte Satz ist in drei große Teile gegliedert, die nur noch entfernt an die Umrisse der Sonatenform erinnern, und besteht aus dem Wechsel von dumpfen, starren Trauermarsch und vitalen, humoristischen Militärmarschstrophen, die ein räumliches Vorbeimarschieren mehrerer Marsch-Kapellen, und zwar aus durchaus gegensätzlichen Richtungen kommend, suggerieren. Erst ganz am Ende stoßen sie alle zusammen, bleiben stehen und schmettern ihre Ankunft in einem gewaltigen Tusch heraus. (Die Ankunftsstimmung kündigt sich übrigens während des gesamten reprisenartigen Teils immer wieder und stets stärker werdend an.) Diese an sich schon höchst originelle und neuartige Formidee wird noch überlagert von der internen ‚Geschichte‘ des anfänglichen, von Mahler in der handschriftlichen Partitur so bezeichneten „Weckrufs“, dessen Vorder- und Nachsatz zwei getrennte Geschichten erzählen.

Das Verhältnis der Trauermarscheinleitung zu den Militärmärschen ist der elementare Gegensatz von Sein und Werden, in ein denkbar sinnfälliges musikalisches Bild gefasst. Und die drei großen Teile des ersten Satzes produzieren – wie Hermann Danuser erkannte – drei verschiedene Erscheinungsweisen des gleichen Inhalts: Der erste Teil unterliegt dabei den (logischen) Gesetzen der Realität, da er sich linear vom Sein zum Werden entfaltet und die Raum- und Zeitkontinuität wahrt (trotz aller diskontinuierlichen Bewegungen der verschiedenen Marschkapellen); der zweite, durchführungsartige Teil integriert zwar zuvor Disparates, untersteht aber den Eigentümlichkeiten des Traumes, also der Zeit- und Raumverschiebung, sodass es mitunter äußerst merkwürdig tönt, und der dritte, reprisenartige Teil schließlich bringt die große Synthese, die in der erwähnten Ankunftsstimmung gipfelt. Wie der dritte Teil jedoch eingeführt wird, ist schier unglaublich: Nach dem immer wilderen Treiben der Durchführung ruft ein Trommelrhythmus, die reale Zeitvorstellung selber, den außer Rand und Band geratenen Satz gewissermaßen zur Ordnung, und dann enthüllt der anfängliche „Weckruf“ überhaupt erst seinen tieferen Sinn: das Aufwecken aus seltsamen Träumen. Danach wird der Sog hin zur Ankunft der Marschkapellen immer stärker durch den kompositorischen Kunstgriff, den Marschstrophen mit reicherer Harmonik und wärmerer Instrumentation einen Resultatscharakter zu verleihen, der den Schluss zwingend herbeiführt.
Mahler selbst dirigierte am 9.Juni 1902 in Krefeld anlässlich des Tonkünstlerfestes des Allgemeinen Deutschen Musikvereins die triumphale Uraufführung.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.