Symphonie Nr. 2 c-moll

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t1 Konzertführer
Gustav Mahler
Symphonie Nr. 2 c-moll

Die Frage nach musikalischer Programmatik stellt sich innerhalb des Oeuvres von Gustav Mahler wohl am entschiedensten bei dessen zweiter Symphonie. Gleichzeitig ist sie ein Beweis dafür, wie kurz Deutungsversuche greifen, die in einer Verlagerung des musikalischen Inhalts ins Semantische ihr Heil suchen. Die scheinbar klare Anlage von der Totenfeier über Antwort des Lebens bis hin zur Auferstehung stellt sich letztlich gegenüber dem musikalischen Ereignis als irrelevant heraus. Freilich wäre es ebenso falsch, die hautnahe Konkretheit des Tons bei Mahler zu leugnen; wirklich gelang es ihm wohl am umfassendsten, das Dilemma des späten 19. Jahrhunderts zwischen Inhalts- und Formästhetik zu lösen, auf ein anderes Niveau zu heben. Die zweite Symphonie, komponiert zwischen 1888 und 1894, nimmt hierbei eine Schlüsselfunktion ein, Otto Klemperer gab ihr – als das Werk Mahlers im Repertoire noch nicht gesichert war – gerade wegen ihrer Plastizität die größten Überlebenschancen, Adorno hingegen sah darin, in einer „zu großen Redseligkeit“ und in dem banalen Entwicklungsgang, die größten Schwächen.
Von Mahler selbst wurden Programmentwürfe nach Vollendung des Werkes angefertigt. Sie waren als Hörhilfen gedacht, wurden aber später wieder zurückgezogen. Gerade diese Dichotomie, diese Dialektik von ‚fasslich‘ und ‚unfasslich‘, benennt ein Spezifikum seiner Musik.

Kurz sei ein Programmentwurf Mahlers wiedergegeben:
„1. Satz. Am Grabe eines geliebten Menschen. Sein Kampf, sein Leiden und Wollen zieht am geistigen Auge vorüber. Fragen drängen sich auf: ‚Was bedeutet der Tod – gibt es Fortdauer?‘
Die nächsten drei Sätze sind als Intermezzi vor dem antwortenden Schlusssatz eingefügt.
2. Satz. Ein seliger Augenblick aus dem Leben des Toten, wehmütige Erinnerungen.
3. Satz. Der Geist der Verneinung hat sich seiner bemächtigt. Die Welt erscheint ihm als sinnloses Treiben. Aufschrei der Verzweiflung.
4. Satz. Rührende Stimme des ‚naiven‘ Glaubens: Vertonung eines Volksliedtextes aus Des Knaben Wunderhorn.
5. Satz. Die Fragen des ersten Satzes drängen sich erneut auf. Apokalyptische Visionen: der große Appell; schließlich der Ausblick auf Erlösung: ‚Und siehe da: es ist kein Gericht, es ist kein Sünder, kein Gerechter – kein Großer und kein Kleiner –, es ist nicht Strafe und nicht Lohn! Ein allmächtiges Liebesgefühl durchdringt uns mit seligem Wissen und Sein.‘“

Soweit ein programmatischer Entwurf Mahlers (zur Münchner Aufführung 1900), der freilich nie konkret festgeschrieben, sondern häufig modifiziert wurde. Dies macht (wenn nicht schon die Heterogenität des Entwurfs selbst) klar, wie peripher Deutungsmuster dieser Art zum Gehalt der Symphonie stehen. Denn dieser verlangt die Fähigkeit zum Hören auf verschiedenen Ebenen. Mahler komponiert gleichsam Unschärfen, verschiedene Deutlichkeitsgrade und Stufen der Konkretheit. Im Klang selbst schwingt die Möglichkeit seines Gegenteils mit, die Musik blickt über ihre tönende Realität hinaus, das Verschwiegene wird essentieller Pol, der Hörer wird gewissermaßen gezwungen, am real Erklingenden vorbeizuhören. In dieser Dialektik ruht der musikalische Gehalt.
Der erste Satz – ursprünglich als symphonische Dichtung ‚Totenfeier‘ komponiert – ist Bild musikalischer Bewegungslosigkeit. Es ist ein erbittertes Festhalten auf einem Ton, das drastisch schon in den ‚wild‘ gerissenen Sechzehntelläufen der Einleitung gezeichnet wird. Trotz immer wieder demonstrativ beschworener Dominant-Tonika-Fortschreitungen scheint alles in flächige Klanglichkeit eingebettet, die die tonalen Funktionen außer Kraft setzt. Die Tonart selbst hat gewissermaßen die Orientierung verloren.
Die drei Mittelsätze sind – auch dies ein wesentliches kompositorisches Mittel Mahlers – ‚uneigentliche‘ Musik: Musikalische Gesten werden aufgegriffen und als Zitat hingestellt. Wirklichkeit und Scheinwelt vermischen sich. So im prätentiösen zweiten Satz, wo mit betontem Nachdruck ‚Behaglichkeit‘ mit einem Vokabular angesteuert wird, das in seinen Möglichkeiten beschnitten scheint. Der dritte Satz auf der Grundlage von Mahlers Des Antonius von Padua Fischpredigt ist eine Collage aus verstellten Tanzfiguren, ein Zerrbild festlichen Treibens. Im Schwung enthüllt sich die Ziel- und Nutzlosigkeit. Der vierte Satz, Urlicht aus des Knaben Wunderhorn für Altsolo, zielt auf eine naive Glaubenshaltung, auf einen Glauben in ‚Volksfassung‘.
Der letzte Satz kehrt auf die kompositorische Ebene des ersten zurück und kehrt diesen um. Marschmotivik und Fanfare werden ‚refunktionalisiert‘, sie treiben nach vorn, hin zur klanglich großdimensionierten (mit Chor) Statik der Schlussfläche. Die Auferstehung ist ein Eintauchen.
Reinhard Schulz

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.