Symphonie Nr. 10

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t1 Konzertführer
Gustav Mahler
Symphonie Nr. 10

Dass Gustav Mahler seine 1910 begonnene zehnte Symphonie nicht mehr vollenden konnte, weil – wie Arnold Schönberg meinte –, wer die Grenze der Neunten überschritten habe, „fort“ müsse, ist zwar eher als romantische Zahlenmystik zu verstehen, wenngleich Mahler solche Gedanken nicht ganz fremd waren. Wohl aber ist sein letztes Werk von der Stimmung des Abschieds, der Resignation und der Auflösung beherrscht, stand Mahler wirklich bereits „dem Jenseits zu nahe“. Die innere Erschütterung und Todesahnung, mit der Mahler die zehnte Symphonie komponierte, haben auch Spuren in den Ausrufen hinterlassen, die sich in den hinterlassenen Skizzen finden: „Erbarmen: O Gott, warum hast du mich verlassen!“ oder „Der Teufel tanzt es mit mir! Wahnsinn fasst mich an Verfluchten! Vernichte mich, dass ich vergesse, dass ich bin!“ – schließlich der Abschied „Leb wohl, mein Saitenspiel!“ Nur der erste Satz der zehnten Symphonie, ein Adagio, ist bis zu einem ausgearbeiteten, wenngleich sicherlich nicht endgültigen Partiturentwurf gediehen. Von den übrigen Sätzen existieren lediglich Skizzen, Particelle und unvollständige Partiturentwürfe, die jedoch einen ungefähren Verlauf der Symphonie in diesem Frühstadium geben können, wobei Mahler sicherlich noch entscheidende Änderungen vorgenommen hätte. Die großformale Anlage der zehnten Symphonie ist in ihrer Fünfsätzigkeit nicht unähnlich der siebten: Zwei Scherzi umschließen als zweiter und vierter Satz einen mit Purgatorio überschriebenen Mittelsatz, der das geheime Zentrum der ganzen Symphonie darstellt. Indem der Satz Motive des Wunderhorn-Lieds Das Irdische Leben aufnimmt, ist er ein Gleichnis der menschlichen Existenz schlechthin. Nachdem schon 1924 Ernst Krenek eine Rekonstruktion bzw. Einrichtung des Adagios und des Purgatorios unternommen hatte, gab es nach dem Zweiten Weltkrieg einige Versuche, eine aufführungsreife ‚Konzertfassung‘ der zehnten Symphonie zu erstellen. Die heute am weitesten verbreitete Fassung ist die Deryck Cookes. Sie ist im philologischen Sinn natürlich äußerst zweifelhaft, bietet aber immerhin die Möglichkeit, einen Eindruck von Mahlers Gesamtkonzeption zu erhalten. Ihr Behelfscharakter sollte freilich ebenso wenig in Vergessenheit geraten wie die Tatsache, dass es sich bei Mahlers Skizzen um die ersten Kompositionsentwürfe handelt, denen ein langer Prozess der Ausarbeitung gefolgt wäre, in dem sich noch vieles geändert hätte.

Meist jedoch wird heute das Adagio allein aufgeführt – ein Satz, der in seiner unverstellten Ausdruckshaftigkeit, in seiner alle traditionellen Grenzen überschreitenden emotionalen Radikalität den Gipfel in Mahlers Spätwerk darstellt. Mehr noch als der Abschied im Lied von der Erde oder das Finale der neunten Symphonie ist das Adagio der zehnten Symphonie eine auskomponierte Auflösung, ein Abschied. Bereits zu Beginn, im Thema der Andante-Einleitung, scheint der Ton des ganzen Satzes auf: Unentschlossen, zögernd, rhythmisch und metrisch instabil führt das auch motivisch amorphe Bratschensolo nirgendwo hin, bleibt im tonalen Schwebezustand, entwicklungslos nur in sich selbst sich bewegend. Das Adagio-Thema, rhythmisch und melodisch konkreter, kündet sehnsuchtsvoll in weiten Bögen sich aufschwingend ebenfalls von Vergeblichkeit. Amorph wie das Adagio-Thema ist auch der ganze Satz: Verschiedene Formen durchdringen einander und lösen sich dabei gleichsam gegenseitig auf. In einer Art Doppelvariation mit Sonatensatz-Einflüssen durchziehen die beiden Themen den Satz – ein „Netzwerk von Ähnlichkeiten“ (Martin Zenck). In immer neuen Ansätzen, in stetigen Versuchen, die von Zäsuren immer wieder unterbrochen werden, steigert er sich allmählich, nicht durch Verdichtung der motivischen Arbeit, sondern gleichsam negativ durch Auflösung und die destruktive Kraft der Zäsuren. Die gestaute Energie bricht schließlich durch in einem clusterartigen Neunton-Akkord, grell und den tonalen Rahmen sprengend: die Katastrophe. Wie eine tönende Materialisation von Verzweiflung wirkt dieser Akkord, in dem – vorbereitet von einem as-moll-Choral – zwei tonale Zentren (cis und ais) gegeneinanderstehen, weit gespreizt den ganzen Tonraum umfassend. Aus den höchsten Lagen fällt die Streichermelodie zurück in die Mittellage, erschöpft und doch zugleich auch gelöst erklingen in der langen Coda Varianten der beiden Themen, die sich langsam im Verstummen auflösen.
Rainer Pöllmann

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.