Das Lied von der Erde. Eine Symphonie für eine Tenor- und eine Alt- (oder Bariton-) Stimme und großes Orchester nach Hans Bethges Die chinesische Flöte

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t1 Konzertführer
Gustav Mahler
Das Lied von der Erde. Eine Symphonie für eine Tenor- und eine Alt- (oder Bariton-) Stimme und großes Orchester nach Hans Bethges Die chinesische Flöte

Alma Mahler berichtet von der abergläubischen Furcht, die Mahler nach der achten Symphonie ergriff, eine neunte Symphonie sei – nach Beethovens Vorbild – zugleich die letzte. Deshalb überlistete Mahler das Schicksal und schaltete eine Symphonie ein, die ein Kompromiss zwischen Lied und Symphonie ist: das Lied von der Erde, ausdrücklich als „Symphonie“ bezeichnet, wenn auch ohne Nummer. Vom bloßen Liederzyklus trennt sie die konsequente motivisch-thematische Arbeit und die Verwendung der Gesangstimme als einer besonderen Klangfarbe im orchestralen Gewebe an Stelle der sonst bei Orchesterliedern üblichen, durchgängigen Hauptstimme. Die Orchesterzwischenspiele rücken, als eigenständiger Kommentar, stark in den Vordergrund und bestätigen die symphonische Haltung. Insgesamt ist das Lied von der Erde ein Gegenentwurf zur dritten Symphonie, denn es gipfelt, nach fünf kürzeren Sätzen, in einem riesigen Finale (Der Abschied), das ein auskomponierter Zerfall ist. (Das Finale der dritten Symphonie dagegen ist die höchste Steigerung und subtile Erfüllung der Werkidee.) Überhaupt verschärft sich der gebrochene Tonfall Mahlers im Spätwerk, nach der affirmativen achten Symphonie, zu tödlicher Resignation, gewinnt Schönheit nur noch aus dem Untergang, im langen Blick der Erinnerung. Dem entspricht der kammermusikalisch aufgebrochene Orchestersatz, der verstörte Einzelstimmen hörbar werden lässt. Nackte, holzschnittartige Linien treten an die Stelle der früheren perspektivischen Klangkomplexe, die vor allem in den mittleren Symphonien ihren Platz fanden. Die Mahlersche Auseinandersetzung zwischen Subjekt und Weltlauf ist im Spätwerk entschieden: Das Subjekt streicht vor der übermächtigen Realität die Segel. Mahler sucht im Lied von der Erde Zuflucht im Exotismus, greift also in die Ferne und zugleich in die Vergangenheit.

Das Lied von der Erde hieß denn auch zunächst Das Lied vom Jammer der Erde. Damit wollte Mahler offensichtlich seine Haltung des Weltschmerzes zum Ausdruck bringen und seine Einsicht in die notwendige Vereinsamung, die hier zum Stilprinzip wurde. Warum aber griff er geradezu Hans Bethges kunstgewerblichen Nachempfindungen altchinesischer Lyrik, zu einem Jugendstil aus zweiter Hand? Die Literaturwissenschaft kann leicht die Texte Bethges als sentimentale Verschnitte einer uns fernen und fremden Kultur entlarven, doch für Mahlers Verhältnis zum Text besagt das wenig. Ihn interessierten die Gedichte nicht als ‚Literatur‘, sondern als ‚Material‘ zum Komponieren. Unter seinen Händen wurden sie zur Gebrauchsliteratur, zu reinen Assoziationsgebilden für die musikalische Phantasie, zur Folie des musikalischen Ausdruckswillens, „Vorwand für musikalische Bauformen“ (Hans Mayer). Mit der ‚hohen‘ Literatur hätte Mahler nicht so umspringen können; das war das Dilemma der achten Symphonie. Ungeniert änderte er die Textvorlagen, seinen musikalischen Bedürfnissen entsprechend, indem er Zeilen wegließ, umstellte oder, wie im letzten Satz, durchaus Eigenes hinzufügte. Ein Gedicht des jungen Mahler aus dem Jahre 1884 enthält eine Verszeile, die im Abschied kurzerhand in den Text Bethges eingefügt wird: Die Worte „Und müde Menschen schließen ihre Lider im Schlaf, aufs neu vergessenes Glück zu lernen“ werden dabei zu „Die müden Menschen geh'n heimwärts, um im Schlaf vergess'nes Glück und Jugend neu zu lernen“. Außerdem verschränkt Mahler ohnehin im Abschied zwei völlig verschiedene Gedichte Bethges miteinander. Die Texte sind kaum mehr als Notbehelfe; im Vordergrund steht die Musik Mahlers.

Der tiefere Grund, warum Mahler überhaupt das Lied von der Erde komponierte, ist biographischer Natur: Die Komposition erfolgte, nach ersten Anfängen im Sommer 1907, in den Sommermonaten der Jahre 1908 und 1909. Drei Schicksalsschläge hatten ihn 1907, wie die drei Hammerschläge den musikalischen „Helden“ der sechsten Symphonie, getroffen: Der Tod seiner älteren Tochter, der Rücktritt als Wiener Hofoperndirektor und seine schwere Herzerkrankung. Doch auch diese biographischen Umstände reichen allein noch nicht hin, die besondere Werkidee des Lieds von der Erde zu erklären. Mahler spürte, wie so viele Künstler im Fin de siècle, die Untergangsstimmung, speziell: den in der Luft liegenden Zusammenbruch der österreichischen Monarchie. Immerhin formulierte bereits im Jahre 1888 der Kronprinz Rudolf von Österreich: „Unheimlich ist die Stille, wie die Stille vor einem Gewitter...“ Mahler war ein viel zu sensibler Künstler, um das nicht auch in seiner Musik zum Ausdruck zu bringen. Er wusste genau, dass er im Lied von der Erde seine persönlichste Aussage treffen würde: „Ist das überhaupt auszuhalten? Werden sich die Menschen nicht darnach umbringen?“ (Mahler zu Bruno Walter). Mahler spricht darin aber nicht unvermittelt selber, sondern schaltet, als lyrisches Ich, die Texte dazwischen und betont etwa im ersten Satz ausdrücklich den Gestus des balladenhaften Vortrags („...sing ich euch ein Lied“), und der Titel des Werkes – „Das Lied von...“ – verweist auf den epischen Tonfall des Ganzen. Mit gebrochener Stimme wird von den Erscheinungen des Lebens berichtet, aber nicht – wie in der dritten Symphonie – als Vergegenwärtigung und Stufenaufbau, sondern als wehmütige Erinnerung und Zerfall.

Der erste Satz (Das Trinklied vom Jammer der Erde) exponiert den Balladenton und die symphonische Grundhaltung (das große Orchesterzwischenspiel nach dem zweiten Refrain ‚Dunkel ist das Leben, ist der Tod‘ ist gewissermaßen die Durchführung) und das Finale verschränkt emotionale Ausbrüche, rezitativischen Tonfall und resignative Ergebung des Erzählers mit weit ausgreifenden durchführungsartigen Orchesterkommentaren und endet im Zustand der Schwerelosigkeit, auf einem unaufgelösten Klang. Die Mittelsätze, Genrebilder ähnlich wie in der dritten Symphonie, korrespondieren bogenförmig miteinander: Der zweite (Der Einsame im Herbst) und fünfte (Der Trunkene im Frühling) lassen den Einzelmenschen von sich erzählen, der dritte (Von der Jugend) und vierte (Von der Schönheit) berichten von der unwiederbringlichen Vergangenheit. Der Abschied ist dazu das resignative Fazit, freilich mit dem Ausblick auf eine Erlösungsvision am Ende, die aber ein Rätselbild formuliert, ohne den Satz zum Abschluss zu bringen. Man weiß nicht recht, ob es ein Verstummen im Tod ist oder der Übergang in ein anderes Leben.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.