Englische Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts

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t1 Konzertführer
Ralph Vaughan Williams, Gustav Holst, William Walton, Michael Tippett
Englische Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts

Ralph Vaughan Williams (1872-1958)
Gustav Holst (1874-1934)
William Havergal Brian (1876-1972)
William Walton (1902-1983)
Michael Tippett (geb. 1905)

Britische Komponisten waren auf dem Kontinent lange Zeit unterschätzt. Seitdem, insbesondere durch die Schallplatte, der hohe Standard der Musikwiedergabe in Großbritannien weltweit geläufig wurde, treten auch etliche Tonsetzer dieses Landes aus dem Halbschatten der Randständigkeit. Zweifellos begegnete Ralph Vaughan Williams (1872-1958) hierzulande zunächst einem größeren Film- als einem Konzertpublikum: als Autor einer Begleitmusik zur Verfilmung der tragischen Südpolexpedition Scotts. Vaughan Williams veröffentlichte diese Arbeit 1953 unter dem Titel Sinfonia antarctica als siebente Symphonie. Insgesamt hinterließ er neun Symphonien – die magische Anzahl. An diese Zahl hielt sich sein Landsmann William Havergal Brian (1876-1972) freilich nicht; nachdem er bis an die Schwelle des Alters ‚nur‘ ein Dutzend Symphonien geschrieben hatte, brachte er es als greiser Tonkünstler noch auf zweiunddreißig; ein Phänomen von Altersfruchtbarkeit, das an Janáček gemahnt.

Sicher war die Symphonie in England (wie auch in Frankreich oder Russland) keine derart vom Über-Ich besetzte Gattung wie in Mitteleuropa. Dennoch spielt sie gerade im Schaffen Vaughan Willaims‘ nicht die Rolle einer Konvention oder gar einer Fingerübung. Vaughan Williams, englisch-walisischer Abstammung, ‚baute‘ mit größter Verantwortlichkeit an seinem symphonischen Oeuvre. (Er gehörte übrigens zu den Komponisten, die einen Großteil ihrer frühen Werke vernichtete.) Neben der siebenten sind noch die erste (Sea-Symphony, 1910) und die dritte Symphonie (Pastoral Symphony, 1922) imaginäre Landschaftsmusiken. Den Gegenpol zu dieser neoromantischen Komponente bilden die klassizistisch-konstruktivistischen Züge, die etwa in der Vierten (1935) zum Durchbruch kommen; dieses Werk zeigt, gewissermaßen mit einiger Verspätung (also zu einer Zeit, als sich auf dem Kontinent wieder regressive Tendenzen bemerkbar machten), die Auseinandersetzung mit einem rabiaten, die Grenzen der Tonalität sprengenden Kontrapunkt. Die tonsprachliche Milderung der späteren Symphonien korrespondiert reizvoll mit einer großen formalen Variabilität, die auch auf eine Lockerung der binnenmusikalischen Bezüge hinzielt, auf Verschmelzung von Symphonie und ‚Tondichtung‘. In der Achten (1956) herrschen dann wieder absolut-musikalische Bewegungsverläufe vor: Der Kopfsatz ist eine Variationskette (‚senza Tema‘), das Scherzo (‚alla Marcia‘) beschäftigt nur Bläser, die Cavatina nur Streicher, und als Finale folgt eine virtuose Toccata.

Gustav Holst (1874-1934) war ungeachtet seines viel kürzeren, von andauernder Krankheit überschatteten Lebens ein Musiker mit breitem stilistischem Radius; Anregungen empfing er auch von Strawinsky und der modernen französischen Musik. Sakralwerke nehmen in seinem Oeuvre einen wichtigen Platz ein. Orchesterstücke wie St. Pauls Suite für Streicher (1913), Edgon Heath (1928) und Prelude & Scherzo Hammersmith (1930) sind außerhalb Englands fast unbekannt geblieben. Umso populärer wurde die Orchestersuite The Planets (1917), die geradezu zu einem Kultstück kulinarisch-mystizistischer Erlebnissucher gedieh (und bezeichnenderweise erst im Hi-Fi-Zeitalter gewaltig reüssierte). Holst unternimmt seine mythologisierende Ausdeutung der sieben Planeten mit einer magischen Klangpalette und schafft astrologische Charakterbilder von eminenter sinnlicher Ausstrahlung. Im Jupiter-Porträt (Nr. 4) lebt die robuste, joviale Gestik Elgars noch einmal auf, während der verdämmernde Frauenchorschluss des finalen Neptun (Nr. 7) sich einerseits mit dem letzten der Debussy‘schen Orchester-Nocturnes, andererseits mit der Poetik Vaughan Williams‘ berührt, dem Holst auch in persönlicher Freundschaft verbunden war. An Raffinement und Bildkraft sind Holsts Planeten kaum zu überbieten und ein eindringliches (wenn auch nicht alle wichtigen Aspekte des Holst‘schen Lebenswerkes erfassendes) Zeugnis tondichterischer Originalität.

In der Generation, der William Walton (1902-1983) angehört, treten romantisierende Elemente zurück; es dominieren klassizistische Bestrebungen. Zwei Symphonien (1935 bzw. 1960) sowie die Orchester-Variations on a Theme by Hindemith markieren die Nähe zu neopolyphonen Richtungen auf dem Kontinent, wobei Waltons Ausrichtung um einige Grade konservativer bleibt.

Michael Tippett, Jahrgang 1905, gebürtig in London, war zumindest in seinen früheren Werken ähnlich temperiert. Zu seinen Erfolgsstücken zählt das Konzert für doppeltes Streichorchester (1939), in seinem kultivierten Neuklassizismus dem Besten von Frank Martin oder Bohuslav Martinü vergleichbar. Das komplizierte Gewebe des vielstimmigen, vielgliedrigen Streichersatzes hat nicht die Härten und nicht das Aggressiv-Artistische entsprechender Strawinsky-Stücke. Mit ungebrochenem Glauben an die Bindefähigkeit meisterlich-könnerhafter Kombinationsfähigkeit und beflügelter Phantasie ‚zaubert‘ Tippett integrale Zusammenhänge; Indiz für die Sicherheit individuellen Formsinns scheint der hymnisch-enthusiastische Tonfall, der das energetische Potential der Ecksätze zusammenhält und dem lyrischen, melodiös ausgesponnenen Adagio insistierende Süße verleiht.
Mit der dritten Symphonie (1972) bietet Tippett ein erstaunliches Bild von ‚Alterswildheit‘. Das Werk besteht aus zwei riesigen Abschnitten, die wesentliche Elemente der üblichen symphonischen Viersätzigkeit bewahren. So mündet die aus dem Kontrast von Statik und Bewegung sich gestaltende Anfangsphase in eine Art langsamen Satz aus splitterhaften kantablen Gesten. Das rhythmisch angelegte Scherzo des zweiten Teils wird jäh unterbrochen durch ein Beethoven-Zitat, den Anfang des Finales der neunten Symphonie, der noch zweimal beschworen wird, um dem weiteren Verlauf des Werkes seine besondere Richtung zu geben (ein in sich gegensätzlicher Gesangsabschnitt, Slow-Blues und Fast-Blues). Die Auseinandersetzung mit Beethovens humanistischem Pathos ist nicht als Leverkühnsche „Zurücknahme“ der neunten Symphonie zu betrachten, wohl aber als aktualisierende Modifikation. Keine Chor-‚Gemeinschaft‘ feiert sich und die Menschheit; die (weibliche) Einzelstimme bleibt Trägerin verletzlicher, aber begründeter Hoffnung (gestützt auf Texte von Martin Luther King, die der Komponist, konsequenter Pazifist, diesem Werkausklang zugrunde legt); dementsprechend wird Finalaffirmation vermieden, und das Werk endet mit abrupten Bläserakkorden, die in zarten Streicherklanggespinsten echohafte Verwandlung erfahren.
Hans-Klaus Jungheinrich

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.