Luigi Dallapiccola und Goffredo Petrassi

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t1 Konzertführer
Luigi Dallapiccola, Goffredo Petrassi
Luigi Dallapiccola und Goffredo Petrassi

Pisino, 3. Februar 1904 – Florenz, 19. Februar 1975
Zagarolo, 16. Juli 1904 – Rom, 03. März 2003

Luigi Dallapiccola und Goffredo Petrassi gehören nicht nur einer Kulturnation an, sondern sie wurden auch im selben Jahr 1904 geboren. Zu Beginn ihrer kompositorischen Laufbahn war für beide wohl eine zwiespältige Situation gegeben: Aufbruch und Verunsicherung. Denn einerseits bestimmte ein kräftiger Neoklassizismus die zeitgenössische musikalische Sprache, andererseits war nicht einmal der Opernverismus überwunden, und da tauchten bereits neue, revolutionäre Stilelemente am Horizont auf: Die Kunde vom atonalen Expressionismus der Zweiten Wiener Schule drang langsam auch nach Italien. Genaueres darüber erfuhren die italienischen Musiker im Jahre 1924 – Arnold Schönberg gastierte mit einem eigenen Ensemble in Florenz und Rom und führte seinen Pierrot lunaire auf. In Florenz befand sich der junge Dallapiccola unter den Zuhörern – bei denen auch Giacomo Puccini saß –, in Rom war es der junge Petrassi.

Die Begegnung mit Schönberg und seiner Musik wirkte auf Luigi Dallapiccola, der aus Istrien (also dem altösterreichischen Kulturkreis) stammte, nachhaltig und tief, beeinflusste sein weiteres Schaffen. In den dreißiger Jahren begann er sich die sogenannte ‚Zwölftontechnik‘ autodidaktisch anzueignen, handhabte sie später in durchaus eigener Ausprägung. Dabei hatte Dallapiccola noch 1932 mit einer Partita für Orchester neobarocke Eigenarten verarbeitet. Aber schon die Canti di prigionia für gemischten Chor und Instrumentalensemble (1938 bis 1940), eine musikalische Stimme für die Freiheit inmitten faschistischer Kultur, ließen die Konventionen der Epoche weit hinter sich. Das dreisätzige Werk, nach Texten von Maria Stuart, Boethius und Savonarola, Zeugnisse des Abschieds vor dem gewaltsamen Tod, folgt in der weitausschwingenden Vokalität altitalienischen Vorbildern, im Ensemble herrschen die Schlaginstrumente und schaffen einen massiven Kontrast zur gesanglichen Linearität. Eine gewisse Einheitlichkeit der drei Sätze wird durch die symbolhafte Dies irae-Weise hergestellt, die dem ausdrucksgeladenen, in vielfältigen Klangbrechungen sich entfaltenden Werk immer wieder ihre tragische Bedeutung aufdrückt.

Diesen Gesängen der Gefangenschaft ließ Dallapiccola in den frühen fünfziger Jahren Canti di liberazione (Gesänge der Befreiung) folgen, wiederum für gemischten Chor und Bläser sowie Schlaginstrumente. Das Werk ist streng zwölftönig konstruiert, gewissermaßen als Antwort auf die früheren Gesänge entworfen und wiederum dreisätzig, die Texte stammen von Sebastiano Castellio, dem Calvin-Gegner, aus dem zweiten Buch Moses und von Augustinus: Die wiedererlangte Freiheit ist hier nicht politisch verstanden, sondern religiös. Die Kölner Uraufführung leitete Hermann Scherchen. – Fünf Jahre zuvor, 1950, hatte Dallapiccola den Themenkreis von Gefangenschaft und innerer Freiheit, von Leiden und Glaubenskraft in einer zwölftönig geprägten sacra rappresentazione eingefangen: Job. 1948 war die Oper ll Prigioniero (Der Gefangene) entstanden. An diese politisch und human engagierte Haltung gemahnt etwas später das Werk von Luigi Nono, dem jüngeren Landsmann Dallapiccolas. Aus der Zeit der Befreiungsgesänge stammen die Variazioni per orchestra, die 1952 zunächst als Klavierzyklus entstanden waren. Sie beziehen ihren Reiz nicht nur aus der überaus kunstreich permutativen Verarbeitung einer Zwölftonreihe, sondern auch aus dem Reichtum an orchestralen Farben und Figuren. In derselben Epoche, Mitte der fünfziger Jahre, schrieb Dallapiccola mehrere Werke für Kammerorchester: die Piccola Musica Notturna (1954), das Concerto per la notte di Natale dell'anno 1956 für Sopran und Kammerorchester (1957), die Kantate An Mathilde für Sopran und Orchester auf Texte von Heinrich Heine (1955).

Requiescant für gemischten Chor und Orchester bedeutet die Rückkehr zum großen instrumentalen Apparat, das Werk stellt den Höhepunkt im seriellen Denken Dallapiccolas dar, die rhythmischen Komplikationen sind vollends auf die Spitze getrieben. Das konzertante Spielprinzip zwischen einem Solisten und dem Orchester wird in den Dialoghi für Violoncello und Orchester (1960) virtuos entfaltet, wobei die strikte Gleichberechtigung der Partner konsequent durchgehalten ist. Schließlich das letzte Orchesterstück: Three Questions with two Answers (1962/63), das sein Wesen aus der emotionalen Nähe und dem Tonmaterial der Spätoper Ulisse bezieht, dem Hauptwerk der sechziger Jahre. Das Schaffen Luigi Dallapiccolas hat vor allem die jüngeren italienischen Komponisten beeinflusst: Berio, Bussotti, Nono, Donatoni und andere haben seinem Andenken Werke gewidmet – die Geschichte wird dem ästhetischen Rang und der menschlichen Substanz seiner Musik wohl noch stärker Gerechtigkeit widerfahren lassen.

Dallapiccola und Petrassi, in Italien oftmals in enger Nachbarschaft gesehen, sind außerhalb ihres Landes durchaus unterschiedlich eingeschätzt. Dem der deutschen Kultur gegenüber besonders aufgeschlossenen Dallapiccola begegnete gerade in den deutschsprachigen Ländern starke Aufmerksamkeit, die Goffredo Petrassi in dieser Intensität bisher hierzulande versagt blieb. Petrassi begann unter dem stilistischen Einfluss Casellas und Strawinskys, man nannte ihn zeitweise den „italienischen“ Hindemith, da er zunächst neobarocken Spielmodellen und einer archaischen, der Chromatik abgeneigten Harmonik den Vorzug gab. Petrassis Orchesterschaffen ist gut überschaubar, da es sich praktisch auf die charakteristische Serie der acht Orchesterkonzerte beschränkt, die zwischen 1933 und 1972 entstanden. Zwei Solokonzerte – jeweils für Klavier bzw. Flöte und Orchester – sind etwas im Hintergrund geblieben, nicht dagegen die beiden bedeutenden Vokalorchesterwerke, der düstere Coro di morti (Dramatisches Madrigal nach Leopardi, 1940), der Petrassis wild-ausdrucksstarke Antwort auf die faschistische Weltkriegsherausforderung darstellt, sowie die Kantate Noche oscura für gemischten Chor und großes Orchester auf ein Gedicht von San Juan de la Cruz.

Goffredo Petrassis Einfluss auf die jüngere Komponistengeneration des Landes ist kaum zu überschätzen, da er zu den gesuchtesten Kompositionslehrern überhaupt gehörte. Aus aller Welt pilgerten die jungen Komponisten zu ihm, um ihr Handwerk zu perfektionieren. Aber gerade eine breite internationale Resonanz auf die Konzerte für Orchester, die in ihren Instrumentalgestalten und ihrem musikalischen Gehalt etwas Einzigartiges darstellen, blieb bisher mit wenigen Ausnahmen aus. Sie spiegeln die kompositorische Entwicklung Petrassis wider, der nicht nur vom Neoklassizismus, sondern früh auch beispielsweise von Alban Berg (Wozzeck, Der Wein) beeinflusst wurde. Ab den fünfziger Jahren öffnete sich der Komponist zunehmend dodekaphonischen Prinzipien und härtete seine Klangsprache mehr und mehr. Das gilt vor allem für die Concerti per orchestra Nr. 2-6, die im Laufe dieser fünfziger Jahre entstanden sind und das konzertante Prinzip auf unterschiedliche Weise und in diversen Bewegungs- und Klangverläufen ausprobieren. Erwähnt seien das fünfte und sechste Orchesterkonzert, von düsterem und vitalem Zuschnitt, aus zwölftönigem Konstruktionsdenken heraus entworfen, höchst effektvoll und kontrastreich instrumentiert. Das Konzert Nr. 7 (1964) treibt die Orchestervirtuosität auf die Spitze, Nr. 8 (1972) war ein Auftrag vom Chicago Symphony Orchestra und wurde dort von Carlo Maria Giulini uraufgeführt. Es ist, wie nur noch das erste Orchesterkonzert, in drei Sätze unterteilt, die anderen Werke der Serie sind einsätzig. Statt eines neunten Konzerts – die Zahl scheint für manche mit einem Tabu belegt – komponierte Petrassi das Poema für Streicher und Trompeten (1977 bis 1980). Die noble, dabei durchaus robuste Figur Goffredo Petrassis, der stärker als Dallapiccola eine spezifisch italienische Musiziertradition in seinem Schaffen ausgeprägt hat, dürfte in Zukunft vielleicht auch im deutschen Musikleben stärkere Aufmerksamkeit finden. Auch in Hinblick auf die überaus reiche und qualitätsvolle Vokal- und Kammermusik nennt ihn Sylvani Bussotti einen „Musiker, der vollendet sein Jahrhundert interpretiert“.
Wolfgang Schreiber

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.