Quattro Pezzi Sacri

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t1 Konzertführer
Giuseppe Verdi
Quattro Pezzi Sacri

Nach der Vollendung des Falstaff, der eine Apotheose der Heiterkeit und zugleich ein sarkastisches Resümee Verdi‘scher Ansichten über den Menschen darstellt, beschloss der nunmehr Achtzigjährige endgültig, den Schlussstrich unter sein Lebenswerk zu ziehen. Ab 1893, nach der Uraufführung seines letzten Bühnenwerkes, wusste die musikalische Welt und am besten Verdi selbst, dass dies sein größter, aber auch sein letzter Geniestreich war. Der ‚gran vegliardo‘ wollte nur noch die Aufführungen seiner Werke überwachen als eifersüchtiger und unbestechlicher Hüter seiner Ideen. Warum er schließlich doch noch einmal zu komponieren begann, kann nur mit seiner künstlerisch-vitalen Unruhe erklärt werden, mit dem Drang, seinen schöpferischen Geist beweglich zu halten. Im Winter 1895/96 arbeitete er an einem Te Deum, im Jahr darauf schuf er ein Stabat Mater, seine letzten musikalischen Vermächtnisse, die allerdings nicht zur Aufführung bestimmt waren. Über das Te Deum verfügte er, es solle bei seinem Tod unter seinen Kopf gelegt werden, er wolle damit vor Gott treten und ihn um Gnade anflehen. Erst die hartnäckigen Bemühungen des kongenialen Librettisten Boito und seines Verlegers Ricordi führten zu einem Einlenken Verdis, sodass diese beiden Stücke zusammen mit den Laudine alla Vergine Maria, einer Vertonung aus Dantes Paradiso, die nach dem Otello entstanden war, in der Karwoche 1898 an der Pariser Oper uraufgeführt werden konnten. Bei der Wiener Erstaufführung im selben Jahr fügte man das Ave Maria (1888) noch hinzu. Die ‚Quattro Pezzi Sacri‘ waren also keineswegs als zyklischer Zusammenhang von Verdi geplant.

Das Ave Maria, mit dem die Reihe gewöhnlich eröffnet wird, ist ein reines a capella-Stück, das für Verdi „keine wirkliche Musik“ war, „sondern nur eine Art Kunststück, eine Charade“. Anlass dafür war ein Wettbewerb über die Harmonisierung einer ‚scala enigmatica‘, die die ‚Gazetta musicale di Milano‘ abgedruckt hatte, eine Tonleiter, die sich aus Halbtonschritten und übermäßigen Intervallen aufbaute. Aus diesem Material entstand ein vierstimmiger Chorsatz. Jede der Stimmen enthielt die Skala nacheinander als eine Art ‚cantus firmus‘. Daraus resultiert ein harmonischer wie klanglicher Reichtum, mit kunstvollen enharmonischen Verwechslungen, ungewöhnlichen Fortschreitungen, die unerwartet zwischen dem b- und dem Kreuzbereich wechseln, ohne dass je die Wirkung einer artistischen Künstlichkeit entstünde. Der Ausdruck des Stücks ist vielmehr der eines ruhigen, natürlichen Fließens; seine Architektur erfährt sich einzig aus der Partitur. Die Laudine der andere reine Chorsatz der ‚Pezzi Sacri‘, lassen eher den Charakter einer Gelegenheitsarbeit erahnen. Ursprünglich sollten sie nicht chorisch, sondern solistisch vorgetragen werden. Durch die hohe Lage des Satzes (zwei Soprane, zwei Altstimmen) entsteht eine schwebende Musik, der das Bassfundament zu fehlen scheint. Verdi greift hier noch einmal jene Mariengebete auf, wie er sie unerhört suggestiv seinen Frauengestalten, der Elisabeth im
Don Carlo oder der Desdemona im Otello, anvertraut hatte.

Deutlich greifbar wird die Aura ‚letzter Werke‘ in den beiden mit Chor und Orchester breiter angelegten Kompositionen des Te Deum und des Stabat Mater. Zumal im Te Deum fließt Verdis Beschäftigung mit den Werken der italienischen Vokalpolyphonie und den gregorianischen Antiphonen entscheidend ein. So eröffnet eine typische gregorianische Anfangswendung, die ‚initio‘ des Lektionstons, das Werk. Daran schließt sich, noch immer a capella, ein antiphonaler Wechselgesang des Doppelchors an, der sowohl an die venezianische Mehrchörigkeit Gabrielis, als auch an die frühe Mehrstimmigkeit des Organums im 11. und 12. Jahrhundert anknüpft. Gleichsam rezitierend werden verschiedene Dreiklänge scheinbar jenseits einer verbindlich zentrierten Tonart gegenübergestellt. Völlig unerwartet, bei den Worten ‚Sanctus Dominus‘, triumphiert dann ein strahlendes Es-dur des Tutti. Wie in einem Brennspiegel führt Verdi hier Stationen der abendländischen Musikwerdung vor, auf engstem Raum von nur sechzehn Takten, ohne dass dies je künstlich oder konstruiert wirken würde. Ergreifend dicht ist die Musik immer beim Wort; dem eigentlich Gemeinten des Textes rückt sie unerbittlich zu Leibe.

Aufs höchste konzentriert ist diese dramatische Vergegenwärtigung des Textes dann im Stabat Mater. Dort nämlich reagiert die Musik exakt auf die dramaturgische Wendung in dem geistlichen Gedicht des 15. Jahrhunderts; eine Sequenz auf das ‚Fest der Sieben Schmerzen Mariä‘. Während der erste Abschnitt eine Art Zustandsbeschreibung darstellt, ein Bild von Christi Mutter zeichnet, die schmerzerfüllt neben dem Kreuz steht, ändert sich ab der Strophe ‚Eia mater...‘ die Sprachebene entscheidend. Denn jetzt wird Maria von den um Beistand bittenden Menschen direkt angesprochen. Dieser Verschiebung der Perspektive innerhalb des Textes trägt Verdi Rechnung. Während das Situationstableau des Anfangs von schmerzlichen Halbtonvorhalten und chromatischen Gängen durchzogen ist, markiert die Musik den sprachlichen Umschlag durch einen klar diatonisch gebauten a capella-Abschnitt des Chors (H-dur). Im Verlauf bilden sich immer größere, melodisch breit ausschwingende Abschnitte, bei denen die anfänglich beherrschende Chromatik sich verwandelt von struktureller Funktion zu überleitenden, warm atmenden Gesten.

An den Schlusswendungen der beiden Werke ist Verdis religiöse Distanz erfahrbar. Wird das Stabat Mater durch eine unisono geführte Quint-Oktavlinie gleichsam ausgeblendet, ohne im eigentlichen Sinn zu schließen (es ist Verdis musikalisches Schlusswort), so löst sich am Ende des Te Deum für einen Moment eine individuelle Sopranstimme aus dem Chorverband (In Te Domine speravi). Verdi greift hier noch einmal das Libera me seines Requiems auf, ohne aber – wie dort – einen realen kadenzierenden Schluss zu finden. Im späten Te Deum folgt auf einen E-dur-Septakkord der nackte Grundton E in den Kontrabässen. Es ist die weise Einsicht eines Mannes, der der Vollendung des Lebens im Tode gegenüber skeptisch bleibt. Statt auf die Gewissheit Gottes zu setzen, assoziiert Verdi das Hoffen darauf durch einen dumpfen, kaum noch wahrnehmbaren Einzelton. Das Ende bleibt offen.
Bernhard Rzehulka

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.