Messa da Requiem

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t1 Konzertführer
Giuseppe Verdi
Messa da Requiem

Seit der Mailänder Uraufführung am 22. Mai 1874 gilt Verdis Requiem-Vertonung als Kirchenmusik im Operntonfall, als überkonfessionelle, über die enge liturgische Bestimmung hinausreichende Komposition für den Konzertsaal, ja sogar als „liturgisches Ungeheuer“ (Alfred Schnerich, 1909), ein Ausbund der für das 19. Jahrhundert typischen ‚Kunstreligion‘, des Versuchs also, das musikalisch zu beschwören, woran eigentlich kaum noch jemand glaubt. So kurzatmig diese Ansichten auch sind, so schwer sind sie zu widerlegen. Und es erscheint fraglich, ob Verdis Requiem, wie Carl Dahlhaus behauptet, zu jenen geistlichen Werken außerhalb der Kirche gehört, wie etwa Mahlers achte Symphonie oder gar Wagners Parsifal. Denn Verdi hat ein anderes Verhältnis zum Religiösen: Er will es musikalisch vermenschlichen, nicht, wie Wagner, als Brimborium oder gebrochen wie Mahler, für eigene ästhetische Zwecke benutzen. Trotzdem komponiert auch er kein liturgisches Werk. Verdi dachte nur an konkrete Anlässe, als er zweimal ansetzte, ein Requiem zu schreiben.

Als Rossini im Jahre 1868 starb, regte Verdi eine Gemeinschaftskomposition zu Ehren des großen Opernkomponisten an. Jeder der insgesamt dreizehn Mitarbeiter sollte je einen Abschnitt des Requiem-Textes (einschließlich des außerhalb stehenden Responsoriums Libera me) übernehmen. Das Projekt kam nicht zustande, doch Verdi komponierte tatsächlich seinen Beitrag, aus dem schließlich die ganze Requiem-Vertonung herauswuchs, als der Tod des von Verdi geschätzten Alessandro Manzoni am 22. Mai 1873 den zweiten, diesmal endgültigen Anstoß gab. Verdi wollte nun das Andenken des bedeutenden Patrioten und künstlerischen Realisten mit einer Requiem-Musik feiern, die den ästhetischen Prinzipien des Verstorbenen in nichts nachstünde. Aus dem ursprünglichen Beitrag – bezeichnenderweise hatte Verdi eben den außerhalb der Liturgie stehenden Schlusstext gewählt – schuf er eine ebenso großartige wie differenzierte Sicht von Tod und Jüngstem Gericht, die als musikalische Realität die „katholische Rache-Utopie“ (Ernst Bloch) in eine Bilderwelt von Trost und Hoffnung verwandelt, ohne die Ewigkeit der Höllenstrafe. Die „Heimzahlung am Jüngsten Tag“ (Bloch) unterbleibt; der Tod verliert seinen Schrecken und erscheint, wie bei Mozart, als Freund.

Ernst Bloch macht in seinem Prinzip Hoffnung auf den seltsamen Umstand aufmerksam, dass es im 19. Jahrhundert gerade die Kraft der Ausdrucksmusik war, die angekränkelte Glaubwürdigkeit der Kirche hinüberzuretten in ästhetische Betroffenheit. Und Verdis Requiem – neben Berlioz und Brahms die wichtigste Vertonung nach Mozart – komponiert den Vorgang der Säkularisation geradezu aus. Zugleich verschafft es durch den musikalischen Ernst eine Erschütterung, die weit über den bloßen Kunstgenuss hinausgeht. Das wird bereits im Introitus deutlich, an der programmatischen Aufhellung des anfänglichen, an Schubert erinnernden a-moll-Motivs (man hört den Beginn von Schuberts Streichquartett in derselben Tonart heraus) zum zuversichtlichen A-dur des Kyrie-Satzes, einer seit Schubert vertrauten Wendung des Tongeschlechts von der Trauer zum Trost. Dem entspricht der Übergang von der Chordeklamation zur Vox humana (Solostimmen). Und wer wollte es Verdi verübeln, dass er seine Solostimmen nicht viel anders singen lässt als in der gleichzeitig entstandenen Aida? Verdi kann nicht davon absehen, dass seine Kunst in erster Linie Menschendarstellung ist. Von vordergründigem, unangebrachtem Operntonfall kann keine Rede sein. Die Herausforderungen, die der Text des Requiems an Verdis musikalische Phantasie stellte, waren denn doch zu verschieden von den dramaturgischen Effekten, die nur einer Oper zustehen.

Im zentralen Dies irae-Satz entwirft denn auch Verdi, ermuntert durch den vielgestaltigen Text (in den er mit Textwiederholungen eingreift), eine an Michelangelo gemahnende Bilderfolge von Schreckens- und Hoffnungsvisionen höchsten musikalischen Niveaus. Es ist auffällig, dass es genau dieser Text ist, der die Phantasie der Musiker besonders reizte, denn liturgisch ist er eher pittoresk und peripher. Hier kann die Musik, und bei Verdi ohnehin, ihre Fähigkeit entfalten, sowohl Furcht und Schrecken als auch Trost und Hoffnung zu verbreiten. Verdi fügt außerdem die Bilderfolge in einen architektonischen Rahmen, indem er den Chor Dies irae zweimal, refrainartig an späterer Stelle wiederholt. Den Ausbrüchen des Dies irae, dem von Berlioz angeregten Tuba mirum, mit seinen Ferntrompeten und der geordneten Wildheit seines Ausdrucks, ferner dem wirklich mit Furcht und Zittern intonierten Rex tremendae stehen die überaus innigen Soloarien und namentlich die Ensembles gegenüber, deren verfeinerter Operntonfall die Sphäre des individuellen Fühlens und Erlebens einfängt. Hier erweist sich Verdi wieder einmal als Feind jeglicher Posen und musikalischer Phraseologien. Statt metaphysischer oder gar theologischer Spekulationen gibt er Einblicke in das natürliche Strömen menschlicher Empfindungen bei der Betrachtung der ‚letzten Dinge‘. Dadurch verleiht er dem strengen Text eine ungeahnte Wärme; man höre nur das Terzett Quid sum miser. Es gibt keine fragwürdige ‚Hintergründigkeit‘ und auch keinen erhobenen musikalischen Zeigefinger in diesem Requiem. Gerade wo der Mensch mit sich allein ist, findet Verdi für ihn die tröstlichste Musik (Salva me, Recordare, Ingemisco). Sie antwortet auf die „Sprengschläge, die bodenlos stürzenden Schreie“ (Bloch) der Dies irae-Chöre.

Das Offertorium eröffnet ganz andere Bezirke: Das Solistenquartett und ein heller, transparenter Orchestersatz wenden sich ganz der subjektiven Innerlichkeit zu, freilich einer, wie Verdi sie versteht, ohne Sentimentalität. Der Tonfall ist intim, vertraulich und schwebend. Zwar hält sich Verdi an die vorgegebene Texteinteilung in Responsorium und Psalmvers, aber seine Wortvertonung geht eigene Wege. Die Worte ‚libera animas‘, werden zum tragenden musikalischen Motiv erhoben und bilden auch den Schluss nach dem Fugato Quam olim Abrahae. Damit transzendiert dieser Teil des Requiems, aber ohne Transzendenz, ähnlich wie der Schluss der Aida.

Die veritable Doppelfuge des Sanctus scheint sich an den Kirchenstil anzulehnen, ist aber in Wirklichkeit ein ganz unkirchlicher, aufgelockerter Satz in betont heller Tonart (F-dur), mit fröhlichen Staccato-Kontrapunkten der Streicher und insgesamt virtuoser, konzertierender Grundhaltung, während das Agnus Dei einen archaisierenden Tonfall anschlägt, der jedoch durch Verdis Hand allmählich persönlichere Züge annimmt und schließlich die anfängliche Distanz völlig verliert. Die Musik zum Lux aeterna ist dagegen in ein seltsam unwirkliches Licht getaucht, das im Mittelteil von einem dumpfen Trauermarsch abgelöst wird. Das Ziel des Satzes ist wieder, wie zuvor im Offertorium, eine transzendierende Geste. Das schon früher komponierte Libera me ist Reminiszenz und Zusammenfassung des Werkes. Es ist ein dramatisches Rezitativ des Solosoprans mit stammelnden Zwischenrufen des Chors, Ausdruck elementarer Angst, die auch noch einmal am Schluss anklingt und so das Werk mit einer offenen Frage zum Abschluss bringt.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.