Italienische ‚Vorklassik‘

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t1 Konzertführer
Giovanni Battista Pergolesi, Giuseppe Tartini, Pietro Locatelli, Luigi Boccherini
Italienische ‚Vorklassik‘

Francesco Geminiani (1680? – 1762)
Domenico Scarlatti (1685 – 1757)
Giuseppe Tartini (1692 – 1770)
Pietro Locatelli (1695 – 1764)
Giovanni Battista Sammartini (1700/1701 – 1775)
Baldassare Galuppi (1706 – 1785)
Giovanni Battista Pergolesi (1710 – 1736)
Pietro Nardini (1722 – 1793)
Luigi Boccherini (1743 – 1805)

Der erste, der Vivaldis Thron ins Wanken brachte, war der Paduaner Giuseppe Tartini. „In der äußersten Reinheit der Intonation, bei der nicht der kleinste Ton verlorengeht, und in der vollkommenen Sicherheit ist es das Beste, was ich je gehört habe“, schrieb Charles de Brosses 1739 über sein Spiel. Zugleich war Tartini, dessen bis heute bekanntes Oeuvre unter anderem rund 125 (von Minos Dounias katalogisierte und mit dem Kürzel D. nummerierte) Concerti und 160 Sonaten für Violine umfasst, in seinem Auftreten und in seiner Wirkung eine durch und durch ‚romantische‘ Künstlerpersönlichkeit. Ähnlich wie später bei Niccolo Paganini verbergen sich auch bei Tartini Leben und Werk hinter phantastischen Legenden; den aberwitzig virtuosen Solopart der sogenannten Teufelstriller-Sonate, in g-moll zum Beispiel soll der Satan selbst dem Komponisten vorgespielt haben, behauptete Jean-Baptiste Cartier in seiner postumen Erstausgabe des Werkes.

‚Romantisch‘ ist auch der Gestus vieler Concerti Tartinis, deren Programmatik nicht die reale Natur imitiert, sondern Seelenlandschaften in Musik setzt; Satzüberschriften wie ‚Bagna La piume in Lete‘ (‚Bade dein Gefieder im Fluss des Vergessens‘) oder ‚Se a me non vieni‘ (‚Wenn du nicht zu mir kommst‘) im Concerto e-moll D. 56 suggerieren Affekte, die erst der ‚galante Stil‘ des späten 18. Jahrhunderts wieder aufgriff. In das Umfeld Vivaldis und Tartinis gehört auch der aus Bergamo gebürtige Geiger und Komponist Pietro Locatello. Zunächst stehen seine Werke noch ganz unter dem Einfluss der Concerti grossi seines Lehrers Arcangelo Corelli, doch bald schon löst er sich von dem Vorbild und beschreitet eigene Wege; vor allem formal gehen Locatellis Concerti Opus V (1736), VII (1741) und IX (1762) weit über barocke Anlagen hinaus und lassen zum Teil regelrechte Durchführungen des thematischen Materials erkennen. Für die Geschichte des Violinspiels ist neben Locatelli auch Tartinis Schüler Pietro Nardini von einiger Bedeutung, dessen Kunst von Christian Friedrich Daniel Schubart und Leopold Mozart hochgeschätzt wurde.

Um die Mitte des 18. Jahrhunderts fließen in Italien die Modelle von Sonata a quattro oder a cinque, Sinfonia und Concerto (grosso) zu einer neuen, eigenständigen Gattung zusammen: der Symphonie. Ihr hervorragender Repräsentant ist der Mailänder Giovanni Battista Sammartini, dessen Bedeutung für die Musikgeschichte der Vorklassik gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Sammartinis über 80 Symphonien haben nicht allein seinen Schülern Christoph Willibald Gluck und Johann Christian Bach maßgebliche Impulse gegeben, sondern auch den Komponisten der Mannheimer Schule; und selbst die drei großen Symphoniker des späten 18. Jahrhunderts – Boccherini, Haydn und Mozart – orientieren sich noch am Vorbild Sammartinis. Sonatenhauptsatz- und Rondoform, periodische Themengliederung, Kadenztypen, durchbrochener Streichersatz und die Integration der Holzbläser in den Orchesterapparat: all das ist in der Musik des Mailänders gängige Münze. Über die Symphonien sollte man freilich Sammartinis übriges Schaffen nicht vernachlässigen; seine mehr als 300 Kammermusikkompositionen verdienten es ebenso wie seine Bühnenwerke und Kirchenmusiken, der Vergessenheit entrissen zu werden.

Der Bedeutung Sammartinis für die Symphonie entspricht die des Neapolitaners Giovanni Battista Pergolesi für das Musiktheater; seine Opern und Intermezzi waren bis zum Ende des 18. Jahrhunderts auf sämtlichen europäischen Bühnen zu sehen – allen voran die Serva padrona, deren Pariser Erstaufführung am 1. August 1752 den sogenannten ‚Buffonistenstreit‘ zwischen den Anhängern der französischen ‚tragédie lyrique‘ und denen der italienischen ‚opera buffa‘ auslöste. Obwohl Pergolesi, von Kindheit an verkrüppelt, nur sechsundzwanzig Jahre alt wurde, gehörte er schon zu Lebzeiten zu den berühmtesten Komponisten seiner Zeit; sein früher Tod und die spektakuläre Rezeption seiner Musik förderten eine wildwuchernde Mythifizierung, die bis heute das reale Bild Pergolesis verzerrt. Am schwersten fällt dabei die Frage nach der Authentizität zahlreicher Werke ins Gewicht; apokryphe, unterschobene, gefälschte oder fälschlich zugeschriebene Kompositionen machen mehr als die Hälfte von Pergolesis Werkverzeichnis aus, und nur allmählich vermag die Musikforschung dieses Labyrinth zu entwirren. So weiß man erst seit einigen Jahren, dass die Sechs Concerti armonici, die bisher als zentrales Instrumentalwerk Pergolesis galten, tatsächlich von dem holländischen Grafen und Musikliebhaber Unico Wilhelm von Wassenaer stammen. Leider wollen die Musik-Medien von solchen Erkenntnissen oft nichts wissen: Nach wie vor werden die Concerti armonici von Rundfunk und Schallplatte meist unter dem (zweifellos zugkräftigeren) Namen Pergolesis gehandelt – wer kennt schon Herrn von Wassenaer!? Fest steht immerhin, dass keines der authentischen Instrumentalwerke Pergolesis den Rang der Serva padrona oder seiner Kirchenmusik (Stabat mater) erreicht. Bachs Vivaldi-Bearbeitungen und die Niederlage der französischen Oper im ‚Buffonistenstreit‘ sind symptomatisch für die Dominanz der italienischen Musik im 18. Jahrhundert. Ihr Einfluss erstreckt sich über ganz Europa, und so finden wir Francesco Geminiani in London und Dublin, Domenico Scarlatti und Luigi Boccherini in Madrid, Baldassare Galuppi gar als Hofkapellmeister Katharinas der Großen in Petersburg. Vor allem das musikgeschichtliche Bild Boccherinis bedarf dringend einer Revision; sein Genie braucht sich neben denen Mozarts und Haydns nicht zu verstecken, und nur die Tatsache, dass er sich in Spanien gewissermaßen im topographischen Abseits der musikalischen Klassik befand, mag eine adäquate Rezeption seiner Werke verhindert haben. Hinzu kommt freilich auch, dass Boccherinis gesamtes, rund fünfhundert Werke umfassendes Oeuvre auf den zweifelhaften Ruhm eines einzigen Satzes reduziert zu sein scheint: gemeint ist der dritte Satz des Streichquintetts E-dur op. 13 Nr. 5 (G. 275) – ein, nein: das Menuett, das nicht erst seit seiner Verwendung als Filmmusik in Orson Welles‘ The Magnificent Ambersons und Alexander Mackendricks Ladykillers zum Synonym einer antiquiert-beschaulichen Plüschkultur geworden ist. Ganz und gar nicht in dieses Genre passen die 30 Symphonien Boccherinis und seine zehn Cellokonzerte (dessen neuntes leidigerweise immer noch in einer entstellenden Bearbeitung Friedrich Grützmachers kursiert, die wohl erst verboten werden muss, bevor das ungleich bessere Original wieder zu seinen Rechten kommt). Mit souveräner Meisterschaft handhabt Boccherini noch vor Haydn und Mozart das klassische Modell und gelangt zu einer unverwechselbar persönlichen Musiksprache, die sich durch einen bald dramatischen, bald lyrischen Gestus und eine vollendete Ausgewogenheit der Form auszeichnet. Von den sechs 1771 entstandenen Symphonien op. 12, deren bekannteste wohl die vierte in d-moll (mit dem Beinamen Della casa del diavolo) ist, bis zu den fünf zwischen 1788 und 1798 komponierten Spätwerken erweist sich Boccherini als sträflich unterschätzter Komponist, und dasselbe gilt für seine Konzerte und die nach Hunderten zählenden Streichquintette und -quartette. Doch das Menuett ist unsterblich oder sagen wir besser: nicht umzubringen. „Erst langsam beginnen Musikforschung und Musikpraxis, den anderen Boccherini zu entdecken: den Generationsgenossen und, in mancher Hinsicht, Gegenspieler Haydns, dessen historische und ästhetische Bedeutung sich erst in Umrissen abzuzeichnen beginnt“ (Ludwig Finscher).
Michael Stegemann

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.