Giacinto Scelsi

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t1 Konzertführer
Giacinto Scelsi
Giacinto Scelsi

La Spezia, 8. Januar 1905 – Rom, 9. August 1988

Möglicherweise wird es noch lange dauern, bis Giacinto Scelsi allgemein als eine der ganz großen und überaus einflussreichen Persönlichkeiten der Musik unseres Jahrhunderts anerkannt werden wird: Zu radikal mag sein Projekt erscheinen, im Inneren eines Tonprozesses nach Schönheit und Wahrheit zu suchen; zu befremdlich dünkt manchen die Tatsache, dass der Meister seine Improvisationen und klanglichen Konzepte – wenn auch nach minutiösen Angaben – von anderen Komponisten in Partitur hat schreiben lassen.

Der Spross einer reichen Adelsfamilie konnte schon früh improvisieren. In jungen Jahren ließ er sich von anerkannten Größen wie Alfredo Casella und Ottorinro Respighi in Rom unterweisen; auch in Wien studierte er, beim Schönberg-Schüler Walter Klein. Prominente Dirigenten führten vor dem Krieg die Werke des weitgereisten Italieners auf. Doch Scelsi durchlebte in den Vierzigern eine persönliche Krise und fühlte immer mehr, dass sein Weg ein anderer werden müsse. Er verstummte für mehrere Jahre, erkrankte gar – und nannte sich nach der existentiellen Lebenszäsur nicht mehr ‚Komponist‘. Denn komponieren (von lat. componere) bedeutet ja ‚zusammensetzen‘, also etwas, was er mit Tönen nicht mehr zu tun gedachte. Zu seiner Haltung beigetragen hatte eine über Tage und Wochen praktizierte meditative Übung: Anschlagen eines Tones, lauschende Versenkung in sein Verklingen, erneutes Anschlagen des Tones, lauschende Versenkung...

Erfahrungen mit indischen Religionen und mit Zen-Buddhismus, vertieft auf ausgedehnten Asienreisen, brachten Scelsi seiner eigenen, auf ganzheitliches Tonerleben ausgerichteten Musik schließlich näher. Konsequent hat er sich aus der um Bilder, Geschichten und Nachrichten buhlenden Öffentlichkeit und ihrer Medienwelt zurückgezogen, um im Inneren eines unbekannten tönenden Kosmos forschen und finden zu können. Von Scelsi existieren keine Photographien. Zen-Symbole repräsentieren in Programmheften sein Konterfei: ein Kreis und eine Linie. Anfang der fünfziger Jahre ließ Scelsi sich in Rom nieder und begann, nachdem er die meisten seiner früheren Arbeiten für ungültig erklärt und vernichtet hatte, zu improvisieren und zu experimentieren. Aus dem spontanen Klangerzeugungsvorgang heraus entstanden, notiert nach Tonbandmitschnitten, hauptsächlich Klavierwerke und Solostücke für diverse Instrumente. Mit den Quattro pezzi per orchestra (1959), Stücken über jeweils einen einzigen Ton, nahm Scelsis eigentliches Schaffen den Anfang. In immer wieder anders gearteten Orchester-, vor allem aber Ensemble- und Solowerken blieb der Künstler dem rätselhaften Wesen des Tönens und Klingens mit raffinierten, quasi atomistischen Verfahren auf der Spur. Meist kreist das extrem reduktionistische, quasi atmende Klanggeschehen um einen Ton, dem durch irisierende Mikrointervalle, molekulare Nuancierungen der Dynamik, der Spielartikulationen, der klangfarblichen Valeurs und Schattierungen die Aura des scheinbar Lebendigen erwächst. Scelsis faszinierende, alles Zeitempfinden relativierende Musik entzieht sich den üblichen Mitteln der Analyse. Ihr linearer, vibrierender, raumschaffender Klang soll energiereiche Transmittersubstanz sein für Botschaften aus einer anderen Welt – und zugleich geistige Emanation dieser Botschaften. Zu den eindrucksvollsten Kompositionen Scelsis gehört das viersätzige Orchesterwerk Aion (1961), das in düster-abgründigen Klangexkursionen Vier Episoden aus einem Tag des Lebens Brahmas versinnbildlicht. Mächtige, hauptsächlich von tiefen Blechbläsern und Streichern bewegte Energien wogen zwischen engen Hauptton-Feldern: Ewigkeit kollabiert zu Augenblicken, das Jetzt wird ein Fenster ins Immerdar. Heller grundiert ist das Meisterwerk Anahit (1965), ein Lyrisches Poem für Solovioline und achtzehn Instrumentalisten. Nicht eigentlich konzertant, eher mit mikrotonal- ‚feinstofflichen‘ Mitteln beseelend fungiert der Solist. Die Skordatur der Violine (G-G-H-D) ermöglicht konzentrierteste infrachromatische Chiffrierungen ein und desselben Tons. Die ägyptische Liebesgöttin Anahit wendet der Menschheit ihr sphinxhaft lächelndes Antlitz zu. In Uaxuctum (1966) für gemischten Chor, Orchester und Ondes Martenot erzählt Scelsi in fünf hochexpressiven Sätzen „Die Legende der Maya-Stadt“ nach, „die sich aus religiösen Gründen selbst zerstörte“: mythenschwangere, halluzinatorisch-bunte Bilder, voll von visionärer Kraft. Gleich dreimal – auf assyrisch, sanskritisch und lateinisch – wird der Friede im Titel des überwältigenden Werkes Knox-Om-Pax (1968/69) beschworen. Hier geht es um „drei Aspekte des Klangs: als erste Bewegung des Unbeweglichen, als kreative Kraft, als die Silbe ‚Om‘, die die unpersönliche Wahrheit bedeutet“. Im letzten der vier kurzen Sätze von Pfhat (1974) für gemischten Chor, großes Orchester, Orgel und dinner bells scheint sich tatsächlich das Reich des Himmels aufzutun. Nachdem den gewaltigen Klangballungen von vielen hauchenden Menschenkehlen Atem und spirituelle Kraft verliehen worden ist, kommt es zur reinigenden Transfiguration: Hohe Instrumente (u. a. Piccolo, Celesta, Orgeltöne) und die von allen beteiligten Musikern geschüttelten Glöckchen tragen bei zur statisch- blendenden Klang-Licht-Epiphanie.

Helmut Rohm

 

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.