Gabriel Fauré

Zurück
t1 Konzertführer
Gabriel Fauré
Gabriel Fauré

Parniess, 12. Mai 1845 – Paris, 4. November 1924

Man kommt schwerlich umhin, sich der Kunst Gabriel Faurés auf assoziativen Wegen zu nähern, denn immer wieder drängen sich Begriffe wie Ruhe, Gelassenheit und heitere Eleganz auf, wenn wir seiner Musik begegnen. Da gibt es nichts Eruptives, keinen Weltschmerz, keine romantischen Verzückungen und Seelenlasten. Selbst innerhalb der französischen Sphäre sucht diese gelöste Haltung ihresgleichen. Debussy sprach von Fauré als dem „Meister des Anmutigen“ und verglich den Charakter der Musik mit einer Pianistin, „die mit charmanter Bewegung einen Träger hochzog, der bei jeder schnelleren Tonleiter verrutschte. Ich weiß nicht“, fährt Debussy fort, „warum sich bei mir eine Gedankenverbindung eingestellt hat zwischen dem Charme dieser Geste und der Musik von Fauré Vielleicht liegt es daran, dass man das graziös flüchtige Linienspiel von Faurés Musik mit der Gebärde einer hübschen Frau vergleichen kann, ohne einer von beiden zu nahezutreten...“ Man hätte Debussys Äußerung indes missverstanden, wenn man aus ihr den musikalischen Luftikus herauslesen würde, der gleich einem Bohemien sein Leben lang dieselben kompositorischen Boulevards entlangflaniert.
Denn Fauré wollte nie äußerliche Effekte erzielen. Er war im Gegenteil davon überzeugt, dass nur die Klavier- und Kammermusik (einschließlich des für ihn so bedeutsamen Liedgenres) von der Aufrichtigkeit der kompositorischen Formung zeugen würden, die Verwendung des Orchesters hingegen ein gefährliches Mittel sei, die Dürftigkeit musikalischer Einfälle zu vertuschen. Und gerade in den intimen musikalischen Gattungen muss man das Zentrum des Fauré‘schen Schaffens erblicken. So liegt etwa zwischen dem frühen Klavierquartett op. 15 und dem Streichquartett op. 121 aus seinem Todesjahr eine enorme Wegstrecke; es ereignet sich nichts Geringeres als das Voranschreiten von der romantischschwärmerischen Eleganz hin zur freien Form und Tonalität. Der skrupulösen Haltung gegenüber dem Orchester – und das inmitten der Wagner‘schen Tumulte in Paris (!) – entsprach sein verhältnismäßig schmales Oeuvre auf diesem Gebiet, dessen Akzent noch dazu auf der Bühnenmusik lag. Diese für den Selbstdarstellungsdrang eines Komponisten undankbare Gattung hat sich dem Schauspiel unterzuordnen, überbrückt Pausen, untermalt Szenen, verstärkt Situationen und Gefühle und lässt sie im besten Fall zu sich selbst kommen. Die dienende Funktion der Bühnenmusik zeigt bestechend Faurés musikalische Ästhetik, nicht im Sinne des Programmatischen – das war ihm zeitlebens fremd –, sondern in Hinblick auf eine Ausdruckshaltung, die gleichsam inwendig sich Raum verschafft und sich der großen Attitüde verweigert.

Bemerkenswert spät legte Fauré im Jahre 1888 sein erstes Werk dieser Gattung vor; Caligula (für Chor und Orchester) zur Tragödie von Alexandre Dumas. Nach Shylok (1889) und La Passion (1890) zu den Dramen von E. Haraucourt gelang 1898 mit der Bühnenmusik Pelléas et Mélisande zum Stück von Maurice Maeterlinck der erste bedeutende Wurf. Noch im selben Jahr filterte Fauré eine Orchestersuite für den Konzertgebrauch heraus, ein viersätziges Werk, das aus den Vorspielen zu vier der fünf Akte bestand: Prélude, Andantino, Sicilienne und Molto Adagio. Nur die Puristen können angesichts einer Musik, die weich dahinströmt, sich nobel beschränkt und nie redselig ist, einen Widerspruch zu Faurés Ressentiments gegenüber dem Orchester erblicken. Denn selbst über dem letzten Abschnitt, der den Tod der Mélisande ankündigt, herrscht im Orchestergewebe eine so tränenlose, distanzierte Wehmut, die jede Sentimentalität beschämt. Als kompositorisches Mittel verwendet Fauré den streng punktierten Rhythmus der alten französischen Ouvertüre (der in seinen Werken oft zu beobachten ist), der den ästhetischen Kontrapunkt zu den milden harmonischen Moll-Farben bildet. Die Mischung von althergebrachtem Modell, klanglichem Vexierspiel und chromatisch-melodischen Wendungen (vgl. die Soloflöte mit ihrer merkwürdig verschobenen d-moll-Skala in den letzten vier Takten) schafft exakt jene Entfernung vom ‚Programmcharakter‘, die die Musik benötigt, um in jedem Moment für sich zu bestehen. Sie bejaht die Poesie und verneint gleichzeitig die Identifikation mit ihr.

Faurés spätes und gleichwohl bekanntestes Stück Masques et Bergamasques, das im Auftrag des Opernhauses von Monte Carlo Anfang des Jahres 1919 entstand, hat kaum etwas mit einem Alterswerk zu tun. Für diese Mischung aus Ballettmusik und Divertimento-Charakter (nach der Dichtung von R. Fauchois) verwandte er hauptsächlich lang zurückliegende eigene Kompositionen (meist Klavierstücke), die er für diesen Anlass zusammenstellte und orchestrierte. So basiert etwa die Ouvertüre des insgesamt achtsätzigen Werkes auf einem lntermède symphonique von 1869, Menuett und Gavotte stammen aus demselben Jahr, und der letzte Satz ist die instrumentierte Pavane op. 50. Nur der zweite Satz, die Pastorale, ist eine Originalkomposition von 1919, mit der Fauré auch das Substrat der viersätzigen Orchestersuite (ebenfalls 1919) beschließt. Masques et Bergamasques ist Faurés späte Verneigung vor der ‚comedia dell'arte‘, vor Harlequin und Colombine und ihrem quirligen Liebestreiben, mit den genuin musikalischen Mitteln der alten Tanzmodelle. Dem Lehrer des wesensverwandten Maurice Ravel gelingt hier eine doppelbödige, kunstvolle Stilisierung, die sich sowohl auf den musikalischen Inhalt bezieht als auch auf die mosaikartige Zusammenstellung des Werkes selbst, das einer ‚Re-vue‘ (im wörtlichen Sinn) seines musikalischen Schaffens gleicht.

So komponiert niemand, der um jeden Preis Furore machen will. Dem entspricht ein geradezu antikonzertanter Charakter der Musik auch dort, wo er eigentlich gefordert wäre. Nach einem frühen Violinkonzert op.14 (1878) greift Fauré noch zweimal die Besetzung von Solo und Orchester auf; in der Ballade op.19 (1881) und der späten Phantasie op. 111 (1918), beide für Klavier und Orchester. Jeder Bezug zur Gattung Konzert, die ja eminente Öffentlichkeit verheißt, ist schon im Titel getilgt. Die Ballade – ursprünglich für Klavier solo geschrieben – könnte eigentlich ‚Berceuse‘ oder ‚Barcarolle‘ heißen, da sie sich von jedem Kontrast zwischen Epischem und Dramatischem, wie ihn Chopin so unvergleichlich darzustellen vermochte, weit entfernt. Das zieht Konsequenzen für die innermusikalischen Bedingungen von Solo und Ensemble nach sich, die einander nicht im konzertanten Sinn gegenübergestellt werden, sondern (nach der Soloeinleitung) zu einem filigranen, duftigen Geflecht verwoben werden; eine Ballade in Pastellfarben.
Eine solche Formulierung könnte mit vollem Recht auch die Kirchenmusik Faurés überschreiben, deren Hauptwerk, die Messe de Requiem, op. 48 (1887/88) wie ein idyllischer Garten inmitten der zerklüfteten Felsmassive sich ausnimmt. Den emphatischen Vertonungen der katholischen Totenliturgie von Berlioz oder Verdi, die zwischen Rache-Utopie und dem glutvollen Plädoyer für den Menschen angesiedelt sind, setzt Fauré seine eigene Sicht auf die ‚Letzten Dinge‘ entgegen. Die Musik seines Requiems verheißt eine gelassene Erwartung, einen süßen Weg ins Paradies, gerade so, als wäre es ein Glück, das Gebrechen der irdischen Tage abzustreifen. Die gewaltige Sequenz des Dies irae, sonst das Zentralstück der Vertonungen des 19. Jahrhunderts, hat in Faurés Überzeugung keinen Platz; sie bleibt unberücksichtigt. Stattdessen werden die Worte „Dona eis requiem“ so häufig und gleichzeitig eindringlich zart vertont wie in keiner anderen Totenmesse.

Wer die Bitte um den ewigen Frieden so ausschließlich zu seiner (musikalischen) Philosophie erklärt und seiner Zuversicht so überzeugend Ausdruck verleihen kann, benötigt nicht die große kompositorische Dimension. Ein vierstimmiger Chor und zwei Solisten (Sopran und Bariton) bilden die vokale Ebene, der Orchesterapparat nimmt sich de facto bescheiden aus. Die Basis stellen Orgel und Streicher (mit nur partiell eingesetzten Violinen) dar. Harfe und eine zwar reichlich angekündigte Bläserformation, deren Hauptfunktion jedoch in der Farbenverstärkung des Orgelklangs besteht, gesellen sich dazu. Die Reduktion der äußeren Mittel und der vergleichsweise geringe Umfang des Werkes unterstreichen die Absicht Faurés, zunächst einmal eine Requiem-Komposition zu schaffen, die liturgisch verwendbar ist. Bewusst distanziert er sich von den alle Kräfte entfesselnden Totenklagen seiner Vorgänger und Zeitgenossen, doch nicht, um dem kirchlichen Ansinnen Tribut zu zollen. Denn gleichsam unterirdisch setzt er den kirchlichen Moralkodex außer Kraft, der das Wohlverhalten der Gläubigen durch die Androhung der Höllenqualen zu erreichen sucht. Nichts davon ist bei Fauré zu spüren. So beschließt er sein Werk auch nicht mit jener ängstlichen Bitte des Libera me, sondern mit dem jenseits jeder Liturgie stehenden Text
„In Paradisum deducant Angeli“, der die Ankunft der Seele im Jenseits schildert. Die Schlussworte „... und mit Lazarus mögest Du ewige Ruhe haben“ stehen paradigmatisch für das Fauré‘sche Bekenntnis. Das Gegenstück dazu bildet die gelassene Eleganz seines gesamten kompositorischen Schaffens.
Bernhard Rzehulka

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.