Symphonisches Fragment D 936 A (1828)

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t1 Konzertführer
Franz Schubert
Symphonisches Fragment D 936 A (1828)

Seit es nun endgültig gesichert ist, dass die früher ins Todesjahr datierte große C-dur-Symphonie bereits 1825 komponiert wurde, rückt das letzte symphonische Fragment D 936 A in den Vordergrund des Interesses an der Frage, wie Schubert seinen symphonischen Weg weitergegangen wäre, wenn er länger gelebt hätte. Die dreisätzige Klavierskizze zu einer D-dur-Symphonie jedenfalls enthält genügend Anhaltspunkte für Spekulationen, wohin der Weg hätte führen können; der langsame Satz lässt immerhin bereits den gebrochenen Tonfall Gustav Mahlers ahnen und ist eines der erstaunlichsten Beispiele für Schuberts Kraft der Antizipation, zugleich ein erschütterndes Dokument für den musikalischen Ausdruck von völliger Trostlosigkeit, wie es ihn nie zuvor gegeben hat. Zudem sind die Skizzen zu dieser Symphonie das letzte, was Schubert überhaupt zu Papier brachte, ohne dass man deshalb Spekulationen über persönliche Todessüchtigkeit und -ahnungen anstellen sollte.

Der Entwurf enthält aber auch tastende Ausgriffe in musikalisches Neuland, und zwar formsprengendes. Daran wird ersichtlich, dass Schubert den Weg zur ‚großen Symphonie‘ mit der C-dur-Symphonie von 1825 keineswegs für ausgeschritten hielt. Insbesondere die Skizze zum ersten Satz zeigt ihn mit dem „Risiko des Neuen“ (Peter Gülke) beschäftigt: Der traditionelle Rahmen der Sonatenform wird von innen heraus aufgesprengt, denn zu Beginn der Durchführung ereignet sich gleichzeitig ein Tonart- und Tempowechsel und öffnet sich ein neuer musikalischer Raum, der später die Reprise verweigert. Das vorangegangene lyrische Thema wird zu einem Brucknerschen Posaunenchoral umgedeutet (!). Das Formproblem im linearen Sinn ist evident: „Kaum lässt sich vorstellen, dass Schubert tatsächlich eine treue Reprise hätte anschließen können. Eher wäre zu fragen, ob ihn seine Erfindung hier nicht an einen Punkt geführt hat, da sich vor der Rekapitulation der Themen, der er noch in seinen kühnsten Sonatensätzen getreulich und ohne einen Beigeschmack von Schulmäßigem nachgekommen war, substantielle Hindernisse aufbauen, dass er sich hier also fast endgültig über die Sonate hinauskomponiert, hinausphantasiert hat“ (P. Gülke). Und das ungewöhnliche Merkmal des letzten Satzes, von dem nicht sicher feststeht, ob er ein Scherzo oder doch ein Finale ist, besteht in der überraschenden Anwendung kontrapunktischer Verfahren – bekanntlich plante Schubert ja kurz vor seinem Tod ein diesbezügliches Studium bei Simon Sechter, dem späteren Lehrer Bruckners. Das letzte symphonische Fragment weist also in jeder Hinsicht weit in die Zukunft. Spielbare Fassungen erstellten Peter Gülke und Brian Newbould. Auch sie sind in Schallplatteneinspielungen greifbar.

Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.