Symphonien Nr. 1-4

Zurück
t1 Konzertführer
Franz Schubert
Symphonien Nr. 1-4

Schuberts frühe Symphonien wurden bis zum Überdruss dem pauschalen Vorwurf ausgesetzt, sie seien nichts weiter als ein bloßes Nachmusizieren Wiener klassischer Errungenschaften, zwar von staunenswerter satztechnischer Meisterschaft, aber doch im schöpferischen Sinn wenig eigenständig. Damit sind in erster Linie die Symphonien Nr. 1-4 gemeint, die in den Jahren 1813 bis 1816 entstanden. (Der Fünften dann wird immerhin eine „Hommage an Mozart“ aus Schuberts eigener Sicht konzidiert, die Sechste hören wir zunehmend als Schubertschen Problemfall.) Damit aber kommen wir dem Konflikt des Symphonikers Schubert um keinen Deut näher. Denn neben Beethoven, noch dazu in derselben Stadt, Symphonien zu komponieren, stellte mehr als nur ein Wagnis dar. Zudem taumelte das musikalische Wien im Rossini-Fieber, dem selbst der „Generalissimus der Musik“ – Beethoven – seinen Tribut zollen musste. Noch lähmender aber erfuhr sich das öffentliche Leben, das durch die staatlich verordneten Lustbarkeiten des Metternichschen Zwangssystems ersetzt werden musste. Die kleinen Leute – und Schubert gehörte zeit seines Lebens einer unterprivilegierten Schicht an – zogen sich in die halbprivate Sphäre des Wirtshauses zurück; weiß Gott, kein dynamischer Ausgangspunkt für einen jungen Symphoniker. Denn Symphonie – das bedeutete Öffentlichkeit, und diese wiederum war ohne den einflussreichen Adel nicht herstellbar. Schuberts symphonische Werke aber bezeichnen den Aufbruch aus dem niederen Wirtshaus hin zum aufgeklärten Bürgertum, das allerdings erst weit nach seinem Tod so recht aufblühte. So verwundert es nicht, dass Schubert seine beiden ersten Symphonien für den in sich geschlossenen Zirkel seines Konvikts komponierte, dass etwa die Unvollendete erst 1865 uraufgeführt wurde oder die dritte Symphonie gar erst 1881 in London. Könnten wir uns das je bei einer Beethoven-Symphonie vorstellen? Es ist nicht zu hoch gegriffen, Schuberts symphonische Werke als m musikalisches wie soziologisches Politikum zu bezeichnen.

Über die erste Symphonie (D-dur, D82) wird erst gar nicht verhandelt. Allenfalls von einem „tastenden Versuch“ des Sechzehnjährigen ist die Rede. Davon aber ist bei näherer Betrachtung nicht viel zu spüren, vielmehr ein erstaunlich selbstbewusster Umgang mit der Form, der es sogar gestattet, das Finale als veritable Sonatenform (und nicht als Rondo) zu gestalten. Wie reflektiert Schubert in seinem Erstlingswerk verfuhr, zeigt die auskomponierte Temporelation zwischen der langsamen Einleitung und dem Allegro-Kopfsatz. Beim Eintritt der Reprise nämlich wiederholt Schubert das Adagio-Portal, jetzt aber innerhalb des Allegro-Zusammenhangs mit verdoppelten Notenwerten, sodass das Adagio-Tempo de facto unverändert bleibt. Er verweist damit ausdrücklich auf den Zusammenhang zwischen Einleitung und Kopfsatz, deren Tempo-Spannung im Verhältnis 2:1 zu stehen habe. Unwillkürlich assoziiert man die große C-dur-Symphonie, die eben diese Konstellation zum Inhalt hat, was allerdings die wenigsten Interpreten befolgen. Die Coda des ersten Satzes dann hat den Charakter eines Wurfs. Sie weist – kaum fassbar – auf die großen Schlussabschnitte des späten Schubert voraus, der hier das eigentliche Zentrum der instrumentalen Form für sich entdeckte, eine latente zweite Durchführung, eine sentenzhafte Überhöhung des bisher Gesagten.


So also sieht in knappen Worten der so oft zitierte „schulmäßige Anlauf“ des jungen Schubert in Sachen Symphonie aus. Natürlich sind die Themen oft noch unselbständig, die Abhängigkeit von Haydn oder Mozart ist kaum zu überhören. Gleichzeitig aber vernimmt man immer wieder jenes schweifende, in sich kreisende Element, etwa wenn im Mittelteil des Andante jähe Vorhaltsakzente schier endlos chromatisch in sich verschoben werden wie ein farbiges Vexierspiel. Das ist die ‚Sprache‘, die schon ganz Schubert gehört, die nichts mit Wiener Klassik oder den vorklassischen Schulen – seinem zweiten Vorbild – zu tun haben. Diese traumwandlerische Sicherheit kann ein zweites Mal naturgemäß nicht erreicht werden. Die 1815 entstandene zweite Symphonie (B-dur D 125) setzt auf das untergründige Experiment; nicht, was die äußeren Formen angeht, sondern die darunterliegenden Filigranstrukturen. Die Themen sind geradezu provozierend simpel angelegt, schnurren entweder rossinihaft ab, ohne aber je dessen lakonische, maschinenartige Qualität zu erreichen, oder sie zeigen sich beschaulich liedhaft. Hinter dieser Fassade aber beginnt Schuberts eigene Welt, sich zu konturieren. Statt nämlich nach dem Rossini-Hauptthema des Kopfsatzes zum Seitenthema zu modulieren, wird dieses erste Thema noch einmal aufgegriffen. An der Grundstruktur ändert sich nichts, sein Ausdruck, seine Farbigkeit aber wird vollständig verwandelt in ein fahles ‚Licht‘ der Holzbläser. Eine in sich pulsierende Ebene etabliert sich, die gleichsam inwendig zu leuchten beginnt; zwei verschiedene Perspektiven auf ein und dieselbe Sache. Die festkörperliche Themengestaltung der Wiener Klassik erhält erste Risse; Schubert spürt hinter den eindeutig formulierten Themenaxiomen schmerzlich gegensätzliche Erscheinungen auf. Die eigene Erregung über diese Entdeckung zittert selbst im Seitensatz (Takt 80ft) noch nach. Im Untergrund brodelt eine ständig sich wiederholende Achtelfigur der Bässe, die durch nichts legitimiert zu sein scheint, in dem idyllischen Zusammenhang ihr Wesen zu treiben. Und bei der Wiederholung – analog dem Phänomen des Hauptsatzes – gleitet dieses repetierende Motiv als spielfreudige Arabeske in die Oberstimmen, während im Bass sich jetzt ein düsterer Orgelpunkt breitmacht. Dieses Vexierspiel innerhalb der Exposition zeitigt negative Konsequenzen für die Durchführung, die sich strenggenommen erübrigen würde. Die thematische Polyperspektivität hatte ja bereits stattgefunden. Und genau dieser Formteil ist Schuberts kaum zu bewältigendes Problem im instrumentalen Zyklus. In allen bis 1818 komponierten Symphonien kommt er nicht über ein bloßes Rekapitulieren hinaus, meist begnügt er sich sogar mit dem Leerlauf sequenzierender Passagen. Der kämpferische Dualismus Wiener klassischer Prägung ist Schuberts Sache nicht. Stattdessen wird die Exposition und die Coda zu einer inwendigen Betrachtung der melodisch-thematischen Substanz.

Diese Errungenschaften galt es zu stabilisieren. Innerhalb von nur neun Tagen im Juli desselben Jahres 1815 wird die dritte Symphonie komponiert (D-dur D200). Den immensen Anspruch, zumal der ersten Symphonie, schraubt Schubert zurück, er bleibt – sozusagen –bei seinen Leisten und besinnt sich, vor allem in den Mittelsätzen, auf ein konfliktfreies Musizieren: auf die dreiteilige Form ohne Entwicklungs- und Durchführungsarbeit. Ist das dem Menuett ohnehin zu eigen, so überträgt Schubert diese Anlage auch auf das Allegretto des zweiten Satzes (ein Andante oder gar Adagio würde nur wieder die klassischen Geister herbeirufen). Es sind zwei schlichte, melodisch regelmäßige Abschnitte mit einer wörtlichen Wiederholung des ersten. Den ‚Sänger‘ Schubert verrät die in Melodie und Begleitung geschiedene Struktur, die nichts mit dem genuin instrumentalen Partiturgewebe der Wiener Klassik zu tun hat. So einfach dieser Satz auch angelegt ist, so sensibel ist seine Binnenstruktur ausgefeilt. Dem übermütig stampfenden Mittelteil, der die Tanzboden-Atmosphäre der Wiener Vorstadt herbeiholt, steht die verhaltene Heiterkeit des Anfangs gegenüber, dessen melodische Struktur das in sich Kreisende, tastend Suchende in sich birgt, das später ein Hauptmerkmal der Schubertschen Musik werden wird. Die modulierende Überleitung (Takt 22 bis 29) wird realisiert durch ein Auf-der-Stelle-Treten des Satzes. Die Musik hakt sich fest, repetiert viermal das letzte melodische Glied gleich einem imaginären Fragezeichen, bis endlich die rückleitende Geste gefunden ist. Noch gelingt sie – später (in der Unvollendeten) tun sich Kraterlöcher auf, die zu überwinden die Musik förmlich explodieren lässt. Trotz (oder gerade wegen) der Überschaubarkeit des Satzes ist Schubert schon weit mehr bei sich selbst, lassen Bau und Verlauf der Musik mehr Originäres zu als im sich kompliziert gebärdenden Kopfsatz, der hier mehr an eine Stilkopie erinnert, als dass er eine eigenständige Durchdringung der symphonischen Konzeption bedeuten würde. Lehnt sich das Menuett in seinem Scherzo-Charakter an Beethoven an, so hat das Finale geradezu italienische Züge. Ähnlich wie in den Ouvertüren im italienischen Stil zeigt Schubert, dass er der schmissigen Italianita Rossinis durchaus ebenbürtig ist, ohne je in epigonenhaftes Nachmusizieren zu verfallen. Die dynamischen Anspannungen und namentlich die kühnen Modulationen erreichen hier eine Eigenständigkeit, die den problematischen ‚italienischen‘ Kopfsatz der zweiten Symphonie vergessen lassen.

Sind die drei ersten Symphonien phasenweise von einer bestechenden Eigenständigkeit, die sich gleichsam unter der Hand ereignet und der es nachzuspüren gilt, so fällt die Vierte demgegenüber ab. Die Tragische, wie Schubert später das im April 1816 komponierte Werk (c-moll D 417) nannte, kommt kaum über eine äußerliche Pathetik hinaus. Sie orientiert sich zu sehr an den klassischen Vorbildern, an Haydns „Vorstellung des Chaos“ aus der Schöpfung und an Beethovenschen c-moll-Zugriff, den sie nur schablonenhaft nachahmen kann. Zumal der Kopfsatz spiegelt das wider. Die Themen schrumpfen zum Klassizistischen hin, werden regelrecht abgespult, ohne dass sich subkutan – wie in den Werken zuvor – jenes Nachsinnieren einstellen würde, jenes Farbenspiel, das den thematischen Sachverhalt so ambivalent und schillernd in Frage stellt. Einzig das As-dur-Andante gehört Schubert wirklich, und das – so eigenartig das klingen mag – wegen des teilweisen Scheiterns. Gerade die zu breite Anlage, die trotz beschaulich liedhaftem Hauptteil und zupackendem f-moll-Mittelteil zu gefährlicher Monotonie führt, zeigt Schuberts Idee eines langsamen Symphoniesatzes. Erst in der großen C-dur-Symphonie kann die Spannung, die einer gleichsam unendlich scheinenden musikalischen Landschaft innewohnt, wirklich ausgehalten und umgesetzt werden. Die Vision aber bereits ist existent und muss hier im Hinterohr mitgehört werden. Das Finale dann, das zunächst den düsteren c-moll-Tonfall anschlägt, kann mit seiner Wendung nach Dur keine überzeugende, konstruktive Lösung anbieten. Beethovens Fünfte steht allzu deutlich Pate. Ist dort aber der Weg von c-moll nach C-dur von schier kathartischer Läuterung, bleibt Schuberts Umwendung konventionell. Natürlich sind die Modulationen regelgerecht, perfekt gesetzt, die dahinterliegende Energie aber erschöpft sich im Handwerklichen.

Schuberts c-moll-Symphonie haftet die zweifelhafte Qualität an, das schwächste der frühen symphonischen Werke zu sein. Und das gerade deshalb, weil ihr Anspruch sich nicht mit dem immensen Vermögen des jungen Genies deckt. Schubert will mehr; er versucht Beethoven nahe zu kommen, möchte eine titanische Ausdrucksgewalt in seine Musik zwängen und reicht nicht über das angelernte Raster hinaus. Gerade deshalb ist die Vierte ein Meilenstein ex negativo für seinen „Weg zur großen Symphonie“ (Schubert, 1824), denn sie öffnet für ihn wie für uns den Blick für die zwiespältige Situation des jungen Symphonikers. Die qualvolle Auseinandersetzung mit der enormen Strahlkraft der Wiener Klassik bleibt ihm nicht erspart (darunter hatte das gesamte 19. Jahrhundert zu leiden), andererseits drängt in unzähligen Partikel n der genannten Werke der eigene Ton nach vorn. Man denke nur an die Entdeckung der Coda in ihrer elementaren Bedeutung für den jungen Schubert. In den frühen Streichquartetten hatte sie noch keine Bedeutung. So sind die frühen Symphonien eine abenteuerliche Wanderung auf dem Weg zu einer eigenen symphonischen Sprache, ein Wagnis, auf dessen Brisanz wir uns lernend einlassen müssen.
Bernhard Rzehulka

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.