Faust-Symphonie

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t1 Konzertführer
Franz Liszt
Faust-Symphonie

Äußerungen von Liszt zur Faust-Symphonie (komponiert: August bis Oktober 1854, Schlusschor 1857) sind kaum überliefert. Die Kenntnis der Faust-Dichtung Goethes, die Liszt „trotz des vielen verwirrten Zeugs, das darin steckt“ zu den Archetypen der „erhabenen dramatischen Epopöe“ zählte, konnte im 19. Jahrhundert vorausgesetzt werden. Liszt beabsichtigte auch gar nicht, Goethes Dichtung in Musik zu setzen, sondern griff sich – in durchaus eigenwilliger Weise – das heraus, was ihm als Musiker wichtig schien. Mit Bedacht nennt er ja die Symphonie eine „nach Goethe“, was aber die Exegeten bis heute nicht davon abzuhalten wusste, in der Symphonie nach versteckten Anspielungen auf bestimmte Stellen der Dichtung zu suchen. Das ist jedoch nicht im Sinne Liszts, dem es gerade darauf ankam, Literarisches und Musikalisches zu verschmelzen, nicht gegenseitig zu kommentieren. Er schrieb 1855 in seiner berühmten Abhandlung über die Symphonie Harold in Italien von Berlioz: „Die Meisterwerke der Musik nehmen mehr und mehr die Meisterwerke der Literatur in sich auf.“ Das heißt doch wohl, dass die Musik es, nach Liszts Auffassung, lernt, eine der Literatur ebenbürtige Charakerisierungskunst zu entwickeln. Dazu half ihm selbst die in den früheren Transkriptionen entwickelte Technik der umfassenden Metamorphose motivischen Materials, die er in der Faust-Symphonie mit souveräner Gelassenheit handhabte.

Die drei Hauptfiguren – Faust, sein Alter ego Mephisto und das unschuldige Gretchen – sind der Ausgangspunkt für eine dramaturgische Anlage, die einen ganz neuen Weg in der Symphonik nach Beethoven beschreitet: Die dramatische Konsequenzlogik der Symphonien Beethovens wird umgangen und statt dessen ein kaleidoskopischer Wechsel thematischer Gestalten in einen dreiteiligen Ablauf gebracht (drei Sätze), der von innen heraus durch die Fülle der motivisch-thematischen Metamorphosen motiviert erscheint. Der erste Satz enthält demnach fünf im Charakter (und im Tempo) höchst unterschiedliche Themen, die – abgesehen von ihrer kühnen Formulierung – fünf verschiedene Materialbereiche verkörpern, somit ein umfassendes ‚Charakterbild‘ Fausts entwerfen. Der Bogen spannt sich vom spekulativen Blick (das erste zwölftönige Thema der Musikgeschichte, gleich zu Beginn der Symphonie) über das Sehnen (Takt 4/5), den ‚agitato‘ und ‚appassionato‘ herausfahrenden Lebensdrang (Thema des Allegro-Hauptteils), den ‚schmerzlichsten Genuss‘ des dritten Themas (das in der Reprise nicht mehr auftritt, dafür aber eine zentrale Stelle im Gretchen-Satz einnimmt) und das spezielle Thema der ‚Liebessehnsucht‘ (eine erste Verwandlung des anfänglichen unbestimmten Sehnens von Takt 4/5) bis hin zum ‚Grandioso‘-Thema des ‚edlen‘ Charakters, einem fast pentatonischen Thema von einer recht zweifelhaften, trivialen Haltung, die später sogar umcharakterisiert wird zu einem ‚Nobile‘-Charakter. Diese fünf Themen nun werden im dritten Satz, im Sinne des Alter ego und Bartóks Konzeption Deux Portraits op. 5 (‚Ein Ideal‘ und dessen ‚Zerrbild‘) vorwegnehmend, einer Verkehrung ins hässliche Gegenteil unterworfen, die Liszts Hang zum Grotesken und Dämonischen und die damit verbundene spezielle Kunst der Themenverwandlung hervorkehrt. Alle Faust-Themen, außer dem des ‚schmerzlichsten Genusses‘, kehren, ähnlich dem Schlusssatz der Symphonie fantastique von Berlioz, als Fratzen wieder. Liszt zieht hier alle Register seiner Variationsverfahren, die sich auf sämtliche Dimensionen des musikalischen Satzes beziehen. Hier ist denn auch der Ort, die Modernität Liszts aufzuspüren. Und es ist sehr bezeichnend für das 19. Jahrhundert, dass das in der Sphäre des ‚Bösen‘ geschieht.

Deshalb wirkt auch der erst 1857 auf Betreiben der Fürstin Sayn-Wittgenstein nachkomponierte ‚Schlusschor (mit Tenorsolo)‘ so peinlich. In der gedruckten Partitur gibt immerhin Liszt dem Dirigenten die Möglichkeit, auch den instrumentalen Alternativschluss zu wählen, den übrigens Wagner ausdrücklich dem ‚Chorus mysticus‘ vorzog. Dieser ursprüngliche Schluss, „welcher zart und duftig mit einer letzten, alles bewältigenden Erinnerung an Gretchen, ohne alle gewaltsame Aufmerksamkeits-Erregung, gegeben war“ (Wagner), geriet ungleich glaubwürdiger als das banale Pathos und die triviale Apotheose des Gretchen-Themas (aus dem zweiten Satz) in der zweiten Fassung. Hier stößt man an die Grenze des Geschmacks, die bei Liszt so häufig überschritten wird.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.