Franz Adolf Berwald

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t1 Konzertführer
Franz Berwald
Franz Adolf Berwald

Stockholm, 23. Juli 1796 – Stockholm, 3. April 1868

Damals wie heute enttäuscht Franz Berwald gewisse Erwartungshaltungen: als Mensch und Musiker, als Komponist oder auch als Geschäftsmann; Nonkonformismus bestimmt die Haltung des Schweden, Individualist ist er immer geblieben, als Mensch, als Musiker, privat wie geschäftlich. Vom Wunderkindruhm getragen, verbringt er seine jugendlichen Jahre als Geiger der Stockholmer Hofkapelle; als Komponist ohne Fortune übersiedelt Berwald 1829 nach Berlin und avanciert dort zum Leiter eines eigenen Instituts für orthopädische Gymnastik. Auf den Umzug nach Wien folgt die Rückkehr nach Schweden; die Erfahrung, dass der Prophet im eigenen Lande tatsächlich nichts gilt, ist ihm Anlass für weitere Auslandsaufenthalte (1846 bis 1849). Trotz europäischem Ruhm in Schweden nur geringgeachtet, steht Berwald verschiedenen nordschwedischen Industriebetrieben vor (1850 bis 1858) und versucht sich seit 1856 auch als Publizist zu musikalischen Themen, polemisiert aber sowohl zu gesellschaftlichen Belangen als auch zu sozialen Fragen. Die Anerkennung als Komponist wird ihm erst zum Lebensende zuteil; ein Jahr vor seinem Tod erfolgt die Berufung zum Kompositionslehrer an das Stockholmer Konservatorium.

Berwalds Leben verläuft in bizarren Bahnen; im unermüdlichen Kampf um die Wertschätzung seiner Kompositionen und im nachdrücklichen Einsatz für seine Schüler entbehrt es nicht einer gewissen Tragik. Aufrichtigkeit, Freigeisterei und Unerschrockenheit fordern in der konservativen schwedischen Gesellschaft der Zeit ihren Preis: die eigene Unsicherheit lässt Berwald Kompositionen vernichten, ja sich selbst sogar zeitweilig ganz von der Komposition zurückziehen (1856 schreibt Berwald, dass er sich „... wie jeder andere Amateur nur zum Vergnügen mit der Tonkunst beschäftige“). Sein großes Verantwortungsgefühl („... ein Komponist darf nur das hinterlassen, was er selbst für bemerkenswert und gut hält“) sowie das Bewusstsein, dass die Zeit für eine gnädige Aufnahme seiner Musik noch nicht reif sei, halten manches Werk über Jahrzehnte in der Schublade zurück oder zwingen es in einen andauernden Prozess der Umarbeitung, des ‚Reifens‘. Die Phasen seiner geschäftlichen Tätigkeit sind durch Zeiten angestrengter kompositorischer Arbeit unterbrochen. Mit Ausnahme des Klavierkonzerts (1855) entstehen Solokonzerte vornehmlich in der Frühzeit: Thema und Variation für Violine und Orchester (1816); Konzert für zwei Violinen und Orchester (1817); Violinkonzert cis-moll (1820); Konzertstück für Fagott und Orchester (1827). Von seinen sechs Symphonien verwirft Berwald noch zu Lebzeiten zwei; nur eine Symphonie hat er je selbst gehört, die anderen wurden nach seinem Tod uraufgeführt! Bis auf die – nur mehr als Fragment erhaltene und verworfene – früheste Symphonie (A-dur, 1820), entstammen Berwalds symphonische Werke seiner zweiten Hinwendung zur Komposition, der Reifezeit der Wiener Jahre: Symphonie sérieuse (1841), Symphonie capricieuse (1842), Symphonie singulière, Symphonie naïve, später Es-dur-Symphonie (1845) umbenannt. Etwa zur gleichen Zeit führt Berwalds Weg seitab der Auseinandersetzung mit der Symphonie klassisch-romantischer Prägung zur symphonischen Dichtung, auf der sich sein europäischer Ruhm als bedeutendster schwedischer Komponist des 19. Jahrhunderts gründete; seine Tongemälde gehörten zu den meistaufgeführten Werken (in den 1840er Jahren entstanden Elfenspiel, Wettlauf, Bayaderenfest, Erinnerung an die norwegischen Alpen, Ernste und heitere Grillen, bereits 1828 Die Schlacht bei Leipzig).

Berwalds Symphonik ist ganz allgemein – eingedenk der immer effektvollen und meisterlichen Instrumentation – vom Widerspiel zweier gegensätzlicher kompositorischer Verfahren getragen: blockhaft-harmonisch gefasste Strukturen – meist im Holz- oder Blechbläsersatz beheimatet – konkurrieren mit einer melodisch weit ausladend geführten, vorwiegend streicherbetonten Linie. Die Zuordnung der erstgenannten Komponente mit ihrem konstruktiven Element repetitiver Motivik zum Bezugspunkt Wiener Klassik sowie die gleichzeitige Nähe zur Romantik in der lichten Weite diatonischer Melodiebildung verdeutlichen Berwalds historische Zwischenstellung. Sie begründet die krasse Ablehnung seiner Musik durch die zeitgenössische schwedische Kritik wie auch die hohe Wertschätzung im südlicheren Europa. Überdies musste die vorsichtige Integration der von Berwald in kritischer Distanz gehaltenen ‚Skandinavismen‘ das heimische Publikum da befremden, wo zur gleichen Zeit andere Nationen seine Tonsprache in dieser Hinsicht als eindeutig empfanden.

Berwalds Symphonik, so heterogen sie sich in ihren Bezügen und ihrem Erscheinungsbild auch geben mag, leistet für die schwedische Musik des 19. Jahrhunderts einen bedeutsamen Beitrag. Zwar ist der Komponist nicht wie die auf ihn folgenden Generationen skandinavischer Komponisten (Gade, Grieg) in die ‚Leipziger Schule‘ gegangen, aber dennoch bleibt auch er nicht unbeeinflusst von ihr. Der häufige ‚attacca‘-Anschluss der Sätze untereinander, die Dreisätzigkeit zweier Symphonien (Capricieuse, Singulière) und damit die Aufwertung des Finalsatzes, lassen auf eine geringere Verbindlichkeit des klassischen Symphoniemodells bei Berwald schließen. Die Einbettung des Scherzos in das Adagio (Singulière) zählt zu den formalen Elementen, die der Komponist dem eigenen kammermusikalischen Schaffen entlehnt (Septett, 1828). Monothematische Struktur (Capricieuse), Dominanz kontrapunktischer Satzweise (Singulière) oder Variationensätze (erster und zweiter Satz der Naïve – nicht nur im eigentlichen Sinn ist das folgende Scherzo ein wenig augenzwinkernd „senza repetizione“ überschrieben), gehören zum formalen Repertoire des Schweden. Ob thematische Verknüpfung von Ecksätzen, harmonische Kühnheit oder die spielerische Eleganz eines Scherzos (Singulière), ob Idyllik oder Themenumstellung nach beschwingter Durchführungstechnik (Naïve), ob Dramatik oder die Aufgabe rhythmischer Prägnanz (Singulière) – alles findet bei Berwald seinen Platz.

Was die Zeitgenossen Berwalds inkonziliant mit dem Bannstrahl der Skurrilität belegten – die Abweichungen von der Tradition, die Freiheit zu Innovativem –, weil es ihnen in seiner Musik offensichtlich zu sehr an Epik und Heroik, am traditionell Martialischen mangelte, verleiht den symphonischen Werken noch heutzutage einen außergewöhnlichen Reiz. In seinem Bestreben nach Klangsinnlichkeit und Klangschönheit, in der Ausprägung selbstvergnügten Spiels vermeidet Berwald Seltsames und Bizarres nicht, sondern verfolgt – durchaus in einem begrenzten Rahmen der Emotion – meisterhaft in der Instrumentation und voller Originalität konsequent seinen eigenen Weg.
Norbert Bolin

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.