Französische ‚Vorklassik‘

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t1 Konzertführer
François-Joseph Gossec, Étienne-Nicolas Méhul, André-Ernest-Modeste Grétry
Französische ‚Vorklassik‘

François-Joseph Gossec (1734 – 1829)
Joseph Boulogne Chevalier de Saint-Georges (1739 – 1799)
André Ernest Modeste Grétry (1741 – 1813)
Giovanni Battista Viotti (1755 – 1824)
Jean François Le Sueur (1760 – 1837)
Etienne Nicolas Méhul (1763 – 1817)
Charles-Simon Catel (1773 – 1830)
François-Adrien Boieldieu (1775 – 1834)

Instrumentalmusik der Vorklassik: Die Mannheimer Schule, die Bach-Söhne, die frühen Symphonien Haydns und Mozarts. Und in Frankreich? „Was mich am meisten bey der sach ärgert, ist, daß die herrn franzosen ihren gout nur in so weit ferbessert haben, daß sie nun das gute auch hören können. daß sie aber einseheten, daß ihre Musique schlecht seye, oder aufs wenigste einen unterschied bemerckten – Ey beleybe!“ berichtet Mozart aus Paris am 5. April 1778 seinem Vater nach Salzburg. Die „schlechte Musique der herrn franzosen“ hatte er im ‚Concert spirituel‘ gehört – der (neben der ‚Académie Royale‘) wichtigsten, 1725 von Anne Danican Philidor mit königlichem Privileg gegründeten Institution des offiziellen Pariser Musiklebens, die an den etwa 35 Kirchenfesttagen, an denen die Oper nicht spielen durfte, Konzerte veranstaltete. Aber „Ey beleybe!“ – so schlecht waren die Werke nicht, die hier gespielt wurden; den Symphonien des Belgiers François-Joseph Gossec zum Beispiel, der durchaus zu Recht mit Sammartini, Haydn und den ‚Mannheimern‘ als einer der ‚Väter‘ der klassischen Symphonie in die Musikgeschichte eingegangen ist, konnte auch Mozart seine Bewunderung nicht versagen. Mehr noch: die Pariser D-dur-Symphonie KV 297 und die Sinfonia concertante Es-dur KV 297b, die Mozart für das ‚Concert spirituel‘ komponiert hat, verraten deutlich den Einfluss Gossecs, und die Ähnlichkeit der Ouvertüre KV 311 a mit Gossecs Symphonie op. 5 Nr. 1 ist gar so evident, dass Köchel in ihr ein Mozart bloß unterschobenes Werk des Belgiers vermutet hat.

Gossec, der seine Karriere als Protegé Rameaus und des berühmt-berüchtigten Barons Bagge begonnen hatte, gründete 1769 das ‚Concert des amateurs‘ und war damit so erfolgreich, dass er 1773 auch die Leitung des maroden ‚Concert spirituel‘ übernahm und mit einem Schlag zum absoluten Herrscher des Pariser Konzertlebens wurde. Gossecs rund fünfzig Symphonien und Concertanten sind sicher der bedeutendste Werkkomplex der französischen Orchestermusik der Vorklassik, doch auch über Frankreich hinaus fand seine Musik Anerkennung und Beachtung: Die Chasse-Symphonien von Carl Stamitz und Joseph Haydn berufen sich zum Teil notengetreu auf Gossecs Symphonie de Chasse von 1776.

Im Winter 1772/73 trat Gossec die Leitung des ‚Concert des amateurs‘ formell an den (selbsternannten) Chevalier des Saint-Georges ab, eine der schillerndsten und abenteuerlichsten Persönlichkeiten des 18. Jahrhunderts: Der illegitime Sohn des französischen Steuereintreibers auf Gouadeloupe und einer Eingeborenen war um 1755 nach Paris gekommen und hatte durch seine exotische Schönheit (als Mulatte) ebenso auf sich aufmerksam gemacht wie durch seine außergewöhnliche Kraft und Gewandtheit; Saint-Georges galt als der beste Fechter seiner Zeit, war ein exzellenter Schütze, Eisläufer, Reiter und Tänzer und durchschwamm (auch im Winter!) die Seine mit nur einem Arm. Die hohe Politik beherrschte der Chevalier – Protegé der Madame de Montasson und Parteigänger des Duc d'Orléans - dabei nicht weniger virtuos als die hohe Kunst des Geigenspiels und der Komposition: Seine opéras comédies, Symphonien, Concertanten und vor allem die Violinkonzerte zeigen die Handschrift eines Meisters.

Am 17. März 1782 gab Giovanni Battista Viotti in einem ‚Concert spirituel‘ sein Pariser Debüt, und bald schon überschattete sein Ruhm als Geiger und Komponist den des Chevalier de Saint-Georges. Von 1782 bis 1792 (und noch einmal von 1819 bis 1823) lebte Viotti in Paris und schrieb hier auch den Großteil seiner Werke: Rund 70 Solosonaten, Streichduos und -trios, vor allem aber 19 der 29 Violinkonzerte, die Viottis Namen weit über Paris hinaus bekannt machten; für das in e-moll (Nr. 16) zum Beispiel komponierte Mozart 1785 in Wien Trompeten- und Paukenstimmen hinzu (KV 470a), und das in a-moll (Nr. 22) rühmte Johannes Brahms noch 1878 als „ein Prachtstück von seiner merkwürdigen Freiheit in der Erfindung“.

Und doch: Die Musikgeschichte der französischen Aufklärung steht so sehr im Zeichen der Oper und des ‚Buffonistenstreits‘, dass der Instrumentalmusik daneben nur eine untergeordnete Rolle zukommt. Komponisten wie Gossecs Landsmann Grétry, wie Le Sueur (der Lehrer Berlioz‘ und Gounods), Méhul oder Boieldieu, die eine ‚opéra comique‘ nach der anderen schrieben, waren – gemessen an ihren Erfolgen und an der Gunst des Publikums – die eigentlichen Größen des Pariser Musiklebens; Werke wie Grétrys (möglicherweise nicht einmal authentisches) Flötenkonzert oder Boieldieus Harfenkonzert fallen dabei kaum ins Gewicht. Die Oper war auch die einzige Gattung, die mehr oder weniger unbeschadet die Wirren der Französischen Revolution überstand; Symphonik und Kammermusik dagegen starben in Frankreich regelrecht aus und kamen – von wenigen Ausnahmen wie Berlioz oder Saint-Saёns abgesehen – erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wieder zu Ehren.

Andererseits aktivierte die Französische Revolution ganz neue, eigenständige Formen der Instrumentalmusik: Militärsymphonien und -ouvertüren, Trauermärsche und ‚Pas de manoeuvre‘, Hymnen zu allen möglichen Anlässen. Die Komponisten der 148 Werke, die Constant Pierre 1899 als zentrales Repertoire der Musique des fêtes et cérémonies de la Révolution française veröffentlicht hat, haben freilich zumeist schon vor 1789 maßgeblichen Anteil am französischen Musikleben gehabt: allen voran Gossec, der allein mit 33 Werken in Pierres Edition vertreten ist. Weiter Catel (24 Werke), Méhul (13 Werke), und Le Sueur (9 Werke), aber auch Berton, Cherubini, Dalayrac, Devienne, Gebauer, Grétry, Jadin und – nicht zu vergessen – Rouget de L‘Isle, Textdichter und Komponist der Marseillaise. Dabei handelt es sich bei den Werken keineswegs nur um Gebrauchsmusik, die außerhalb ihrer Zeit kein Interesse verdiente; Gossecs Marche lugubre von 1790 zum Beispiel ist ein genial orchestriertes, mit seinen (nicht aufgelösten) Dissonanzen frappierend modernes Stück und überdies der erste Trauermarsch der Musikgeschichte – das unmittelbare Vorbild nicht nur des zweiten Satzes der Eroica.

Während in Mitteleuropa die stilistischen Strömungen der Vorklassik die (Wiener) Klassik vorbereiten und sich in ihr vollenden, bleiben sie in der französischen Musikgeschichte ohne Folgen: die Revolution hat für einen Beethoven oder Schubert keinen Platz. Auch das Zeitalter Napoleons ist ein Zeitalter der Oper; Werke wie die beiden Symphonien Méhuls – die erste 1808, die zweite 1809 entstanden – wurden zwar von Beethoven, Goethe, Schubert und Weber hochgeschätzt, fanden aber in Frankreich kaum Beachtung. Ebenfalls 1809 komponierte Gossec seine Symphonie à dix-sept parties – gleichsam der Abgesang auf die französische Vorklassik, die er selbst mehr als fünfzig Jahre zuvor mit seinen Six Symphonies à quatre parties op. 3 eingeleitet hatte.

Michael Stegemann

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.