Ouvertüren

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t1 Konzertführer
Felix Mendelssohn Bartholdy
Ouvertüren

Die vier großen Konzertouvertüren Mendelssohns lassen sich nicht ohne weiteres mit dem Begriff ‚Programmmusik‘ erklären, trotz ihrer eindeutig außermusikalischen Vorlagen. Das liegt zunächst an der simplen Tatsache, dass sie als musikalische Werke für sich bestehen können, also der sie begleitenden ‚Geschichten‘ nicht unabdingbar bedürfen. Trotzdem ist Mendelssohn ‚programmatische‘ Musik eine wesentliche Voraussetzung für die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierenden symphonischen Dichtungen von Liszt und später von Richard Strauss. Diese schillernde Sonderstellung zwischen Autonomie und Programm rührt von Beethovens Pastorale her, deren Motto „Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei“ mit Recht auch Mendelssohns Ouvertüren für sich in Anspruch nehmen könnten. Die Loslösung der Gattung Ouvertüre von Oper oder Schauspiel und ihre Etablierung als einsätziges Konzertstück ist die eigentliche Tat Mendelssohns. (Selbst Beethovens Die Weihe des Hauses, op. 124 bedurfte noch eines konkreten Anlasses.)

So hat sogar die berühmte Sommernachtstraum-Ouvertüre, der geniale Wurf des Siebzehnjährigen – das Autograph trägt zu Beginn und am Schluss die Daten des 8. Juli und des 6. August 1826 –, zunächst nichts mit einer Einleitung zu einer Schauspielmusik zu tun, die Mendelssohn zwar auch schrieb, jedoch erst im Jahre 1843 als Opus 61. Die Ouvertüre op.21 hingegen steht für sich und ist dem Konzertsaal zugehörig. Sie zaubert mit genuin musikalischen Mitteln die Atmosphäre der Shakespeare‘schen Komödie herbei – aus der Perspektive des frühen 19. Jahrhunderts –, schildet aber keine Inhalte. Das Stück gehorcht ziemlich genau der Sonatenform, weist eine Exposition, eine Durchführung, die sich wesentlich auf das flirrende Achtelmotiv zu Beginn konzentriert, und eine veritable Reprise auf. Zwar wurde (von Friedhelm Krummacher) zu Recht darauf verwiesen, dass die Musik aus dem Formmodell keine wesentlichen Impulse gewinnt, es zeigt aber dennoch das Festhalten Mendelssohns am primär instrumentalen Entwurf, im Gegensatz zur nachzeichnenden Schilderung, wozu die Musik lediglich als Mittel dient. So können zwar die kaleidoskop-artigen Themen der Exposition mit Shakespeares Figuren in Verbindung gebracht werden, etwa der ‚Elfenreigen‘ am Beginn, der ‚Rüpeltanz‘ und ähnliches, aber diese plakative Zuordnung griffe ebenso kurz. Denn wie könnte man dann die vier magischen Bläserakkorde zu Beginn und am Ende erklären, die eigentlich eine simple Kadenz mit Vertauschung von Subdominante und Dominante darstellen? Sie sind Rahmen und zugleich Herzstück des Ganzen, aus ihnen wächst das Geschehen heraus und zieht sich dorthin wieder zurück. In dieser Akkordfolge steckt die musikalische Idee des Werkes; sie bindet die Assoziationskette des nächtlichen Reigens in kompositorische Eigenständigkeit.

Überzeugt in der Sommernachtstraum-Ouvertüre das immense Vermögen Mendelssohns, divergente musikalische Materialien in eine einheitliche Form zu bringen, so ist es in der zweiten Konzertouvertüre Die Hebriden op. 26 die musikalische Geschlossenheit, die zum Ziel führt. Das 1829 während einer Schottland-Reise konzipierte und 1832 abgeschlossene Werk verschreibt sich zwar der Naturschilderung, ist aber musikalisch so kompakt und sinnvoll gebaut, dass eine Kenntnis der schottischen Fingalshöhle nicht vonnöten ist. Dafür sorgt erneut das (hier: eintaktige) Anfangsmotiv, das aber im Gegensatz zu Opus 21 nicht geheimes Zentrum ist, sondern handfeste Struktur. Es zieht sich in schier zahllosen Varianten durch das Stück und verklammert es zum fast monothematischen Sonatensatz. Die innermusikalische Idee ist bestechend: dem statischen Naturtableau entspricht das strukturelle Beharren auf einem zentralen Motiv, demgegenüber die anderen thematischen Gestalten (von denen es etliche gibt) in Wirkung und Substanz zurücktreten müssen. Auf ganz eigene Weise zeigt sich auch hier wieder die ambivalente Stellung der Mendelssohn‘schen Ouvertüre, die zwischen autonomem musikalischem Verständnis und außermusikalischer Vermittlung ihren Ausgleich sucht.

Das ändert sich dann in der dritten Konzertouvertüre op. 27, Meeresstille und Glückliche Fahrt, die 1828 auf die literarische Vorlage des Goethe-Gedichtpaars komponiert wurde. Im Gegensatz zu Beethovens Vertonung (für vierstimmigen Chor und Orchester), die den Kontrast von Ruhe und Sturm zum räumlichen Szenarium weitet und die Naturereignisse durch die Empfindungen des Menschen spiegelt, werden die Goethe-Worte für Mendelssohn lediglich Anlass zur musikalischen Schilderung der Naturgewalten. Hier ist, für ein einziges Mal, das Programmatische tatsächlich im Vordergrund. Die langsame Einleitung und der davon herauswachsende Allegro-Satz sind kaum mehr als Gerüst für die fast fotografisch exakte Darstellung einer Schiffspassage. Man erlebt gekräuseltes Wasser, majestätische Wellenbewegungen, das Pfeifen des Windes und sogar – ohne dass dies in Goethes Gedicht angesprochen würde – die Einfahrt in den Hafen, begrüßt von den Trompetenfanfaren der Coda. Natürlich versucht Mendelssohn, auch hier die kompositorische Struktur zu entwickeln (alle thematischen Gestalten, auch die der langsamen Einleitung, wachsen aus einem rhythmischen Modell, das bereits im ersten Takt in den Kontrabässen auftaucht), das Beschreibende, Malende der Musik zeigt sich indes so beherrschend, dass die kompositorische Architektur kaum mehr zum korrigierenden Gegengewicht werden kann.

Die vierte der großen Konzertouvertüren hielt Mendelssohn für seine beste. Angeregt von der Oper Melusina aus der Feder Konrad Kreutzers, der ein ursprünglich für Beethoven geschriebenes Libretto von Grillparzer vertont hatte, komponierte Mendelssohn 1833 die Ouvertüre Das Märchen von der schönen Melusine, die er 1835 noch einmal umarbeitete. Dieses Opus 32 konzentriert sich ganz betont auf die Sonatenform und bringt die außermusikalische Vorlage mit dem kompositorischen Prinzip zur Deckung. Dem Sujet – der vergeblichen Liebe der Meerjungfrau Melusine zum Grafen Lusignan – ordnet Mendelssohn zwei extrem verschiedene Themen zu: das weich fließende Wellenmotiv und das männlich ritterliche Seitenthema. Zwar sind sie der gängigen Sonatenform gegenüber vertauscht, doch Mendelssohn spielt geradezu mit ihrer kontrastreichen Unvereinbarkeit. Nur mit Hilfe eines zusätzlichen Themas innerhalb der Durchführung, einer Oboenmelodie, die beide Charaktere (das Wellenartige und die abtaktig rhythmische Figur) in sich aufzunehmen versucht, kann eine Brücke zwischen beiden Welten geschlagen werden.

Dass Mendelssohn die märchenartige Polarität so direkt an das kompositorische Prinzip des Sonatensatzes überträgt, zeigt, worum es ihm eigentlich zu tun ist, nämlich die Balance zwischen kompositorisch autonomer Struktur und beschreibender Ästhetik zu wahren.
Bernhard Rzehulka

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.